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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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auf die Beseitigung von Zuständen hinzuwirken, welche "die Schande
Europas" sind.



Der Krieg im Orient.
(Extra-Beilage zu Nr. 20 der "Neuen Welt" vom 19. Mai 1877.)

Der Krieg, welcher soeben da "hinten in der Türkei" begonnen
hat, ist der fünfte russisch-türkische Krieg seit dem Frieden von Kutschuk
Kainardschi (21. Juli 1774), welcher die Pforte den Russen geöffnet
und ihr bedeutende Gebietsabtretungen an die nordischen Eroberer auf-
gelegt hatte. Der wievielte russisch-türkische Krieg überhaupt, das läßt
sich in der Geschwindigkeit gar nicht feststellen. Schon Jahrhunderte
bevor Kaiserin Katharina auf ihrer Reise nach Südrußland (1787) an
die Landstraße einen Wegweiser mit der Jnschrift setzen ließ: Weg nach
Konstantinopel!
übte die Wunderstadt an den Dardanellen eine un-
widerstehliche Anziehungskraft auf die Russen aus. Jn dem russischen
Chronisten Nestor lesen wir (Buch 1, Kap. 3):

"Oleg setzte (i. J. 907) in Byzanz seine Truppen an's Land, die
nach altem Kriegsgebrauche viele Häuser und Kirchen plünderten und
verbrannten und die Menschen theils niederhieben, theils henkten, theils
ersäuften und auf verschiedene Weise marterten." Als er dann einen
Tribut festgesetzt, den die Christen ihm zahlen sollten, und seinen Heer-
schild zum Zeichen des Sieges am Thore von Byzanz aufgehängt hatte,
zog er wieder ab, mit Plünderungsschätzen beladen. Jeder Versuch
der Christen, sich von ihren heidnischen Peinigern zu befreien, wurde
durch einen neuen Verwüstungszug bestraft. So zog schon Oleg's
Nachfolger, Jgor, wieder gegen die Griechen, wobei es noch munterer
herging als das erstemal. "Es wurden", erzählt Nestor, "von den
Russen viele Kirchen und Klöster ausgeplündert und zerstört und viele
Menschen theils in Stücke gehauen, theils erschossen, theils mit Nägeln,
die man ihnen in den Kopf schlug, unmenschlicherweise ermordet."

Die Russen waren damals noch nicht zum Christenthum überge-
treten, wohingegen in Konstantinopel das Christenthum in vollster Blüthe
stand und herrschte. Dieser Umstand allein beweist zur Genüge, daß
das christliche Mäntelchen, welches die Russen ihren Kriegen gegen die
Türkei umzuhängen belieben, eben nur ein Mäntelchen ist zur Täuschung
des "dummen Volks". Prangte noch das Kreuz auf der "Hagia
Sophia" (der heiligen Sophienkirche), wäre nie ein Türke nach Europa
gekommen -- Rußland würde, ebenso wie dies geschehen ist und ge-
schieht, sich Konstantinopels zu bemächtigen gesucht haben und suchen.
Ein Blick auf die Geschichte Rußlands und auf die erste beste Land-

auf die Beſeitigung von Zuſtänden hinzuwirken, welche „die Schande
Europas‟ ſind.



Der Krieg im Orient.
(Extra-Beilage zu Nr. 20 der „Neuen Welt‟ vom 19. Mai 1877.)

Der Krieg, welcher ſoeben da „hinten in der Türkei‟ begonnen
hat, iſt der fünfte ruſſiſch-türkiſche Krieg ſeit dem Frieden von Kutſchuk
Kainardſchi (21. Juli 1774), welcher die Pforte den Ruſſen geöffnet
und ihr bedeutende Gebietsabtretungen an die nordiſchen Eroberer auf-
gelegt hatte. Der wievielte ruſſiſch-türkiſche Krieg überhaupt, das läßt
ſich in der Geſchwindigkeit gar nicht feſtſtellen. Schon Jahrhunderte
bevor Kaiſerin Katharina auf ihrer Reiſe nach Südrußland (1787) an
die Landſtraße einen Wegweiſer mit der Jnſchrift ſetzen ließ: Weg nach
Konſtantinopel!
übte die Wunderſtadt an den Dardanellen eine un-
widerſtehliche Anziehungskraft auf die Ruſſen aus. Jn dem ruſſiſchen
Chroniſten Neſtor leſen wir (Buch 1, Kap. 3):

„Oleg ſetzte (i. J. 907) in Byzanz ſeine Truppen an’s Land, die
nach altem Kriegsgebrauche viele Häuſer und Kirchen plünderten und
verbrannten und die Menſchen theils niederhieben, theils henkten, theils
erſäuften und auf verſchiedene Weiſe marterten.‟ Als er dann einen
Tribut feſtgeſetzt, den die Chriſten ihm zahlen ſollten, und ſeinen Heer-
ſchild zum Zeichen des Sieges am Thore von Byzanz aufgehängt hatte,
zog er wieder ab, mit Plünderungsſchätzen beladen. Jeder Verſuch
der Chriſten, ſich von ihren heidniſchen Peinigern zu befreien, wurde
durch einen neuen Verwüſtungszug beſtraft. So zog ſchon Oleg’s
Nachfolger, Jgor, wieder gegen die Griechen, wobei es noch munterer
herging als das erſtemal. „Es wurden‟, erzählt Neſtor, „von den
Ruſſen viele Kirchen und Klöſter ausgeplündert und zerſtört und viele
Menſchen theils in Stücke gehauen, theils erſchoſſen, theils mit Nägeln,
die man ihnen in den Kopf ſchlug, unmenſchlicherweiſe ermordet.‟

Die Ruſſen waren damals noch nicht zum Chriſtenthum überge-
treten, wohingegen in Konſtantinopel das Chriſtenthum in vollſter Blüthe
ſtand und herrſchte. Dieſer Umſtand allein beweiſt zur Genüge, daß
das chriſtliche Mäntelchen, welches die Ruſſen ihren Kriegen gegen die
Türkei umzuhängen belieben, eben nur ein Mäntelchen iſt zur Täuſchung
des „dummen Volks‟. Prangte noch das Kreuz auf der „Hagia
Sophia‟ (der heiligen Sophienkirche), wäre nie ein Türke nach Europa
gekommen — Rußland würde, ebenſo wie dies geſchehen iſt und ge-
ſchieht, ſich Konſtantinopels zu bemächtigen geſucht haben und ſuchen.
Ein Blick auf die Geſchichte Rußlands und auf die erſte beſte Land-

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[13/0017] auf die Beſeitigung von Zuſtänden hinzuwirken, welche „die Schande Europas‟ ſind. Der Krieg im Orient. (Extra-Beilage zu Nr. 20 der „Neuen Welt‟ vom 19. Mai 1877.) Der Krieg, welcher ſoeben da „hinten in der Türkei‟ begonnen hat, iſt der fünfte ruſſiſch-türkiſche Krieg ſeit dem Frieden von Kutſchuk Kainardſchi (21. Juli 1774), welcher die Pforte den Ruſſen geöffnet und ihr bedeutende Gebietsabtretungen an die nordiſchen Eroberer auf- gelegt hatte. Der wievielte ruſſiſch-türkiſche Krieg überhaupt, das läßt ſich in der Geſchwindigkeit gar nicht feſtſtellen. Schon Jahrhunderte bevor Kaiſerin Katharina auf ihrer Reiſe nach Südrußland (1787) an die Landſtraße einen Wegweiſer mit der Jnſchrift ſetzen ließ: Weg nach Konſtantinopel! übte die Wunderſtadt an den Dardanellen eine un- widerſtehliche Anziehungskraft auf die Ruſſen aus. Jn dem ruſſiſchen Chroniſten Neſtor leſen wir (Buch 1, Kap. 3): „Oleg ſetzte (i. J. 907) in Byzanz ſeine Truppen an’s Land, die nach altem Kriegsgebrauche viele Häuſer und Kirchen plünderten und verbrannten und die Menſchen theils niederhieben, theils henkten, theils erſäuften und auf verſchiedene Weiſe marterten.‟ Als er dann einen Tribut feſtgeſetzt, den die Chriſten ihm zahlen ſollten, und ſeinen Heer- ſchild zum Zeichen des Sieges am Thore von Byzanz aufgehängt hatte, zog er wieder ab, mit Plünderungsſchätzen beladen. Jeder Verſuch der Chriſten, ſich von ihren heidniſchen Peinigern zu befreien, wurde durch einen neuen Verwüſtungszug beſtraft. So zog ſchon Oleg’s Nachfolger, Jgor, wieder gegen die Griechen, wobei es noch munterer herging als das erſtemal. „Es wurden‟, erzählt Neſtor, „von den Ruſſen viele Kirchen und Klöſter ausgeplündert und zerſtört und viele Menſchen theils in Stücke gehauen, theils erſchoſſen, theils mit Nägeln, die man ihnen in den Kopf ſchlug, unmenſchlicherweiſe ermordet.‟ Die Ruſſen waren damals noch nicht zum Chriſtenthum überge- treten, wohingegen in Konſtantinopel das Chriſtenthum in vollſter Blüthe ſtand und herrſchte. Dieſer Umſtand allein beweiſt zur Genüge, daß das chriſtliche Mäntelchen, welches die Ruſſen ihren Kriegen gegen die Türkei umzuhängen belieben, eben nur ein Mäntelchen iſt zur Täuſchung des „dummen Volks‟. Prangte noch das Kreuz auf der „Hagia Sophia‟ (der heiligen Sophienkirche), wäre nie ein Türke nach Europa gekommen — Rußland würde, ebenſo wie dies geſchehen iſt und ge- ſchieht, ſich Konſtantinopels zu bemächtigen geſucht haben und ſuchen. Ein Blick auf die Geſchichte Rußlands und auf die erſte beſte Land-

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/17>, abgerufen am 28.03.2024.