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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22.
sie ernstlich und ausdrücklich verlangt hat, rechtswidrige wenn
auch milder bestrafte Handlung (StGB. §. 216), während
Beleidigung, Verletzung der weiblichen Geschlechtsehre, Be-
schränkung der persönlichen Freiheit, Eingriffe in fremde
Vermögensrechte usw. (unter gewissen Voraussetzungen) durch
die Einwilligung des Verletzten den deliktischen Charakter
verlieren. Der Satz volenti non fit injuria, abgeleitet von
l. 1 §. 5 Dig. 47, 10 ist in dieser Allgemeinheit nach römi-
schem wie nach heutigem Rechte unrichtig.

4. Die von dem Träger eines Rechtsgutes selbst
vorgenommene Verletzung desselben
6 sollte principiell
ebenso beurteilt werden, wie die mit Einwilligung des Ver-
letzten von einem Dritten ausgehende Handlung. Doch hat
das positive Recht, von sekundären Gesichtspunkten geleitet,
die Grenzlinie dort vielfach anders bestimmt als hier. Bei-
spiele bietet die im modernen Rechte ziemlich allgemein an-
genommene Beurteilung des Selbstmordes, der Selbstbe-
fleckung, Selbstkastration usw. Die Selbstverstümmlung ist
nur ausnahmsweise (StGB. §. 142 Vereitlung der Wehr-
pflichterfüllung) als Delikt behandelt.

5. Soweit das positive Recht eine totale oder par-
tielle Rechtlosigkeit
kennt, ebensoweit schließt diese die
Rechtswidrigkeit aller oder gewisser Verletzungen aus. Dem
heutigen Rechte ist eine solche Auffassung völlig fremd. Die
unbefugte Tötung des zum Tode verurteilten Verbrechers
unterliegt den allgemeinen Regeln. Anders dachte das ältere
Recht: man erinnere sich an die römische sacratio capitis,
die germanische Friedlosigkeit, die Oberacht des mittelalter-
lich deutschen Rechtes; an die Rechtlosigkeit der Zigeuner

6 Lit. bei Binding Grundriß S. 152.

Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22.
ſie ernſtlich und ausdrücklich verlangt hat, rechtswidrige wenn
auch milder beſtrafte Handlung (StGB. §. 216), während
Beleidigung, Verletzung der weiblichen Geſchlechtsehre, Be-
ſchränkung der perſönlichen Freiheit, Eingriffe in fremde
Vermögensrechte uſw. (unter gewiſſen Vorausſetzungen) durch
die Einwilligung des Verletzten den deliktiſchen Charakter
verlieren. Der Satz volenti non fit injuria, abgeleitet von
l. 1 §. 5 Dig. 47, 10 iſt in dieſer Allgemeinheit nach römi-
ſchem wie nach heutigem Rechte unrichtig.

4. Die von dem Träger eines Rechtsgutes ſelbſt
vorgenommene Verletzung desſelben
6 ſollte principiell
ebenſo beurteilt werden, wie die mit Einwilligung des Ver-
letzten von einem Dritten ausgehende Handlung. Doch hat
das poſitive Recht, von ſekundären Geſichtspunkten geleitet,
die Grenzlinie dort vielfach anders beſtimmt als hier. Bei-
ſpiele bietet die im modernen Rechte ziemlich allgemein an-
genommene Beurteilung des Selbſtmordes, der Selbſtbe-
fleckung, Selbſtkaſtration uſw. Die Selbſtverſtümmlung iſt
nur ausnahmsweiſe (StGB. §. 142 Vereitlung der Wehr-
pflichterfüllung) als Delikt behandelt.

5. Soweit das poſitive Recht eine totale oder par-
tielle Rechtloſigkeit
kennt, ebenſoweit ſchließt dieſe die
Rechtswidrigkeit aller oder gewiſſer Verletzungen aus. Dem
heutigen Rechte iſt eine ſolche Auffaſſung völlig fremd. Die
unbefugte Tötung des zum Tode verurteilten Verbrechers
unterliegt den allgemeinen Regeln. Anders dachte das ältere
Recht: man erinnere ſich an die römiſche sacratio capitis,
die germaniſche Friedloſigkeit, die Oberacht des mittelalter-
lich deutſchen Rechtes; an die Rechtloſigkeit der Zigeuner

6 Lit. bei Binding Grundriß S. 152.
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[87/0113] Mangelnde Rechtswidrigkeit im Allgemeinen. §. 22. ſie ernſtlich und ausdrücklich verlangt hat, rechtswidrige wenn auch milder beſtrafte Handlung (StGB. §. 216), während Beleidigung, Verletzung der weiblichen Geſchlechtsehre, Be- ſchränkung der perſönlichen Freiheit, Eingriffe in fremde Vermögensrechte uſw. (unter gewiſſen Vorausſetzungen) durch die Einwilligung des Verletzten den deliktiſchen Charakter verlieren. Der Satz volenti non fit injuria, abgeleitet von l. 1 §. 5 Dig. 47, 10 iſt in dieſer Allgemeinheit nach römi- ſchem wie nach heutigem Rechte unrichtig. 4. Die von dem Träger eines Rechtsgutes ſelbſt vorgenommene Verletzung desſelben 6 ſollte principiell ebenſo beurteilt werden, wie die mit Einwilligung des Ver- letzten von einem Dritten ausgehende Handlung. Doch hat das poſitive Recht, von ſekundären Geſichtspunkten geleitet, die Grenzlinie dort vielfach anders beſtimmt als hier. Bei- ſpiele bietet die im modernen Rechte ziemlich allgemein an- genommene Beurteilung des Selbſtmordes, der Selbſtbe- fleckung, Selbſtkaſtration uſw. Die Selbſtverſtümmlung iſt nur ausnahmsweiſe (StGB. §. 142 Vereitlung der Wehr- pflichterfüllung) als Delikt behandelt. 5. Soweit das poſitive Recht eine totale oder par- tielle Rechtloſigkeit kennt, ebenſoweit ſchließt dieſe die Rechtswidrigkeit aller oder gewiſſer Verletzungen aus. Dem heutigen Rechte iſt eine ſolche Auffaſſung völlig fremd. Die unbefugte Tötung des zum Tode verurteilten Verbrechers unterliegt den allgemeinen Regeln. Anders dachte das ältere Recht: man erinnere ſich an die römiſche sacratio capitis, die germaniſche Friedloſigkeit, die Oberacht des mittelalter- lich deutſchen Rechtes; an die Rechtloſigkeit der Zigeuner 6 Lit. bei Binding Grundriß S. 152.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/113>, abgerufen am 18.04.2024.