Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Begriff der Handlung. §. 19.

Daher sind niemals Verbrechen:

1. Wegen mangelnder Körperbewegung die Ge-
danken
. Cogitationis poenam nemo patitur sagt Ulpian
in l. 18 Dig. 48, 19; und dieser Satz muß um so entschie-
dener betont werden, als in jüngster Zeit (Binding) dem
Entschlusse an sich die Bedeutung verursachender deliktischer
Thätigkeit beigelegt worden ist.

2. Wegen fehlenden psychischen Aktes.

a) die passiven Bewegungen, welche ohne Ver-
mittlung der motorischen Nerven durch eine von Außen
her unmittelbar auf
die Muskeln wirkende Kraft her-
vorgerufen werden. Absolute Gewalt: ein Dritter führt ge-
waltsam meine Hand zur Brandlegung; auf schmalem Alpen-
pfade strauchelnd, stürze ich meinen Begleiter in den Ab-
grund.

b) Die Reflexbewegungen, bei welchen ein auf die
Empfindungsnerven wirkender Reiz, unmittelbar ohne Ver-
mittlung des Willens, die korrespondierenden Bewegungs-
nerven erregt. Die das Theebrett tragende Dienstmagd
niest heftig und zertrümmert das kostbare Service.

3. Wegen Mangels der Vorstellung (der Bewußt-
heit, nicht des Bewußtseins) alle Bewegungen, die nicht
ins Bewußtsein treten
. Der Zerstreute nimmt den
fremden Regenschirm mit; zerreißt im Sprechen eine Ur-
kunde usw. Es genügt jedoch, wenn die Bewegung im All-
gemeinen
eine bewußte war, mögen auch die Details, wie
dies nicht nur häufig, sondern regelmäßig der Fall, sich dem
Bewußtwerden entziehen.

II. Die körperliche Bewegung ruft, kraft des Kausalitäts-
gesetzes, Veränderungen in der Außenwelt hervor. Man
nennt diese Folgen Erfolg, und rechnet denselben zur

Der Begriff der Handlung. §. 19.

Daher ſind niemals Verbrechen:

1. Wegen mangelnder Körperbewegung die Ge-
danken
. Cogitationis poenam nemo patitur ſagt Ulpian
in l. 18 Dig. 48, 19; und dieſer Satz muß um ſo entſchie-
dener betont werden, als in jüngſter Zeit (Binding) dem
Entſchluſſe an ſich die Bedeutung verurſachender deliktiſcher
Thätigkeit beigelegt worden iſt.

2. Wegen fehlenden pſychiſchen Aktes.

a) die paſſiven Bewegungen, welche ohne Ver-
mittlung der motoriſchen Nerven durch eine von Außen
her unmittelbar auf
die Muskeln wirkende Kraft her-
vorgerufen werden. Abſolute Gewalt: ein Dritter führt ge-
waltſam meine Hand zur Brandlegung; auf ſchmalem Alpen-
pfade ſtrauchelnd, ſtürze ich meinen Begleiter in den Ab-
grund.

b) Die Reflexbewegungen, bei welchen ein auf die
Empfindungsnerven wirkender Reiz, unmittelbar ohne Ver-
mittlung des Willens, die korreſpondierenden Bewegungs-
nerven erregt. Die das Theebrett tragende Dienſtmagd
nieſt heftig und zertrümmert das koſtbare Service.

3. Wegen Mangels der Vorſtellung (der Bewußt-
heit, nicht des Bewußtſeins) alle Bewegungen, die nicht
ins Bewußtſein treten
. Der Zerſtreute nimmt den
fremden Regenſchirm mit; zerreißt im Sprechen eine Ur-
kunde uſw. Es genügt jedoch, wenn die Bewegung im All-
gemeinen
eine bewußte war, mögen auch die Details, wie
dies nicht nur häufig, ſondern regelmäßig der Fall, ſich dem
Bewußtwerden entziehen.

II. Die körperliche Bewegung ruft, kraft des Kauſalitäts-
geſetzes, Veränderungen in der Außenwelt hervor. Man
nennt dieſe Folgen Erfolg, und rechnet denſelben zur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0097" n="71"/>
              <fw place="top" type="header">Der Begriff der Handlung. §. 19.</fw><lb/>
              <p>Daher &#x017F;ind niemals Verbrechen:</p><lb/>
              <p>1. <hi rendition="#g">Wegen mangelnder Körperbewegung</hi> die <hi rendition="#g">Ge-<lb/>
danken</hi>. <hi rendition="#aq">Cogitationis poenam nemo patitur</hi> &#x017F;agt <hi rendition="#g">Ulpian</hi><lb/>
in <hi rendition="#aq">l. 18 Dig.</hi> 48, 19; und die&#x017F;er Satz muß um &#x017F;o ent&#x017F;chie-<lb/>
dener betont werden, als in jüng&#x017F;ter Zeit (<hi rendition="#g">Binding</hi>) dem<lb/><hi rendition="#g">Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e</hi> an &#x017F;ich die Bedeutung verur&#x017F;achender delikti&#x017F;cher<lb/>
Thätigkeit beigelegt worden i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>2. <hi rendition="#g">Wegen fehlenden p&#x017F;ychi&#x017F;chen Aktes</hi>.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#aq">a</hi>) <hi rendition="#g">die pa&#x017F;&#x017F;iven Bewegungen</hi>, welche ohne Ver-<lb/>
mittlung der motori&#x017F;chen Nerven durch eine von <hi rendition="#g">Außen<lb/>
her unmittelbar auf</hi> die Muskeln wirkende Kraft her-<lb/>
vorgerufen werden. Ab&#x017F;olute Gewalt: ein Dritter führt ge-<lb/>
walt&#x017F;am meine Hand zur Brandlegung; auf &#x017F;chmalem Alpen-<lb/>
pfade &#x017F;trauchelnd, &#x017F;türze ich meinen Begleiter in den Ab-<lb/>
grund.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#aq">b</hi>) <hi rendition="#g">Die Reflexbewegungen</hi>, bei welchen ein auf die<lb/>
Empfindungsnerven wirkender Reiz, unmittelbar ohne Ver-<lb/>
mittlung des Willens, die korre&#x017F;pondierenden Bewegungs-<lb/>
nerven erregt. Die das Theebrett tragende Dien&#x017F;tmagd<lb/>
nie&#x017F;t heftig und zertrümmert das ko&#x017F;tbare Service.</p><lb/>
              <p>3. <hi rendition="#g">Wegen Mangels der Vor&#x017F;tellung</hi> (der Bewußt-<lb/><hi rendition="#g">heit</hi>, nicht des Bewußt<hi rendition="#g">&#x017F;eins</hi>) alle Bewegungen, die <hi rendition="#g">nicht<lb/>
ins Bewußt&#x017F;ein treten</hi>. Der Zer&#x017F;treute nimmt den<lb/>
fremden Regen&#x017F;chirm mit; zerreißt im Sprechen eine Ur-<lb/>
kunde u&#x017F;w. Es genügt jedoch, wenn die Bewegung im <hi rendition="#g">All-<lb/>
gemeinen</hi> eine bewußte war, mögen auch die Details, wie<lb/>
dies nicht nur häufig, &#x017F;ondern regelmäßig der Fall, &#x017F;ich dem<lb/>
Bewußtwerden entziehen.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#aq">II.</hi> Die körperliche Bewegung ruft, kraft des Kau&#x017F;alitäts-<lb/>
ge&#x017F;etzes, Veränderungen in der Außenwelt hervor. Man<lb/>
nennt die&#x017F;e Folgen <hi rendition="#g">Erfolg</hi>, und rechnet den&#x017F;elben zur<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0097] Der Begriff der Handlung. §. 19. Daher ſind niemals Verbrechen: 1. Wegen mangelnder Körperbewegung die Ge- danken. Cogitationis poenam nemo patitur ſagt Ulpian in l. 18 Dig. 48, 19; und dieſer Satz muß um ſo entſchie- dener betont werden, als in jüngſter Zeit (Binding) dem Entſchluſſe an ſich die Bedeutung verurſachender deliktiſcher Thätigkeit beigelegt worden iſt. 2. Wegen fehlenden pſychiſchen Aktes. a) die paſſiven Bewegungen, welche ohne Ver- mittlung der motoriſchen Nerven durch eine von Außen her unmittelbar auf die Muskeln wirkende Kraft her- vorgerufen werden. Abſolute Gewalt: ein Dritter führt ge- waltſam meine Hand zur Brandlegung; auf ſchmalem Alpen- pfade ſtrauchelnd, ſtürze ich meinen Begleiter in den Ab- grund. b) Die Reflexbewegungen, bei welchen ein auf die Empfindungsnerven wirkender Reiz, unmittelbar ohne Ver- mittlung des Willens, die korreſpondierenden Bewegungs- nerven erregt. Die das Theebrett tragende Dienſtmagd nieſt heftig und zertrümmert das koſtbare Service. 3. Wegen Mangels der Vorſtellung (der Bewußt- heit, nicht des Bewußtſeins) alle Bewegungen, die nicht ins Bewußtſein treten. Der Zerſtreute nimmt den fremden Regenſchirm mit; zerreißt im Sprechen eine Ur- kunde uſw. Es genügt jedoch, wenn die Bewegung im All- gemeinen eine bewußte war, mögen auch die Details, wie dies nicht nur häufig, ſondern regelmäßig der Fall, ſich dem Bewußtwerden entziehen. II. Die körperliche Bewegung ruft, kraft des Kauſalitäts- geſetzes, Veränderungen in der Außenwelt hervor. Man nennt dieſe Folgen Erfolg, und rechnet denſelben zur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/97
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/97>, abgerufen am 18.04.2024.