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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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Einleitung.
d) in den durch internationale Organe (Donaukommission, inter-
nationale Gerichte u. s. w.) innerhalb ihrer Zuständigkeit ge-
troffenen Anordnungen (unten § 16).
II.

Nur die Rechtsüberzeugung der Staaten vermag Recht zu schaffen.
Daher sind nicht Quellen des Völkerrechts:

1. Das Naturrecht im alten Sinne, als ein über dem posi-
tiven Recht stehendes, von Zeit und Ort unabhängiges, unveränder-
liches Recht;
2. die Rechtsphilosophie oder das Naturrecht im moder-
nen Sinne des Wortes, d. h. die von der Wissenschaft an den Ge-
setzgeber gerichteten Forderungen;
3. die Staatenpolitik, d. h. die Grundsätze, nach denen die
Staaten bei Verfolgung ihrer politischen Zwecke wirklich oder an-
geblich vorgehen (Legitimitätsprinzip, Prinzip des europäischen
Gleichgewichts, Nationalitätsprinzip);
4. Entwicklungsgesetze, durch welche (soweit wissen-
schaftliche Feststellung hier möglich ist) die Staatenbildung und
Staatengeschichte kausal bestimmt wird (das Gesetz der natürlichen
Grenzen, der Ausdehnung bis ans Meer u. s. w.).
III.

Eine allgemeine Kodifikation des Völkerrechts ist in der
Litteratur seit Bentham durch eine ganze Reihe von Schriftstellern
vorgeschlagen worden, insbesondere 1872 durch den nachmaligen
Präsidenten des Instituts für Völkerrecht, den Rechtslehrer und
Staatsmann Mancini, in seiner in italienischer Sprache geschrie-
benen Schrift über den Beruf unseres Jahrhunderts zur Reform und
Kodifikation des Völkerrechts und zur Regelung eines internatio-
nalen Streitverfahrens. Unter den litterarischen Versuchen, die
Rechtssätze des Völkerrechts in der Gestalt eines Gesetzbuches dar-
zustellen, sind zu erwähnen: Bluntschli, Das moderne Völker-
recht als Rechtsbuch dargestellt 1868, 3. Auflage 1878; Dudley-
Field
, Draft outlines of an International Code 1872; Fiore, Il
diritto internazionale codificato e la sua sanzione giuridica 1890,
2. Aufl. 1898. Wertvolle Vorarbeiten lieferte das 1873 gegründete

Einleitung.
d) in den durch internationale Organe (Donaukommission, inter-
nationale Gerichte u. s. w.) innerhalb ihrer Zuständigkeit ge-
troffenen Anordnungen (unten § 16).
II.

Nur die Rechtsüberzeugung der Staaten vermag Recht zu schaffen.
Daher sind nicht Quellen des Völkerrechts:

1. Das Naturrecht im alten Sinne, als ein über dem posi-
tiven Recht stehendes, von Zeit und Ort unabhängiges, unveränder-
liches Recht;
2. die Rechtsphilosophie oder das Naturrecht im moder-
nen Sinne des Wortes, d. h. die von der Wissenschaft an den Ge-
setzgeber gerichteten Forderungen;
3. die Staatenpolitik, d. h. die Grundsätze, nach denen die
Staaten bei Verfolgung ihrer politischen Zwecke wirklich oder an-
geblich vorgehen (Legitimitätsprinzip, Prinzip des europäischen
Gleichgewichts, Nationalitätsprinzip);
4. Entwicklungsgesetze, durch welche (soweit wissen-
schaftliche Feststellung hier möglich ist) die Staatenbildung und
Staatengeschichte kausal bestimmt wird (das Gesetz der natürlichen
Grenzen, der Ausdehnung bis ans Meer u. s. w.).
III.

Eine allgemeine Kodifikation des Völkerrechts ist in der
Litteratur seit Bentham durch eine ganze Reihe von Schriftstellern
vorgeschlagen worden, insbesondere 1872 durch den nachmaligen
Präsidenten des Instituts für Völkerrecht, den Rechtslehrer und
Staatsmann Mancini, in seiner in italienischer Sprache geschrie-
benen Schrift über den Beruf unseres Jahrhunderts zur Reform und
Kodifikation des Völkerrechts und zur Regelung eines internatio-
nalen Streitverfahrens. Unter den litterarischen Versuchen, die
Rechtssätze des Völkerrechts in der Gestalt eines Gesetzbuches dar-
zustellen, sind zu erwähnen: Bluntschli, Das moderne Völker-
recht als Rechtsbuch dargestellt 1868, 3. Auflage 1878; Dudley-
Field
, Draft outlines of an International Code 1872; Fiore, Il
diritto internazionale codificato e la sua sanzione giuridica 1890,
2. Aufl. 1898. Wertvolle Vorarbeiten lieferte das 1873 gegründete

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[8/0030] Einleitung. d) in den durch internationale Organe (Donaukommission, inter- nationale Gerichte u. s. w.) innerhalb ihrer Zuständigkeit ge- troffenen Anordnungen (unten § 16). II. Nur die Rechtsüberzeugung der Staaten vermag Recht zu schaffen. Daher sind nicht Quellen des Völkerrechts: 1. Das Naturrecht im alten Sinne, als ein über dem posi- tiven Recht stehendes, von Zeit und Ort unabhängiges, unveränder- liches Recht; 2. die Rechtsphilosophie oder das Naturrecht im moder- nen Sinne des Wortes, d. h. die von der Wissenschaft an den Ge- setzgeber gerichteten Forderungen; 3. die Staatenpolitik, d. h. die Grundsätze, nach denen die Staaten bei Verfolgung ihrer politischen Zwecke wirklich oder an- geblich vorgehen (Legitimitätsprinzip, Prinzip des europäischen Gleichgewichts, Nationalitätsprinzip); 4. Entwicklungsgesetze, durch welche (soweit wissen- schaftliche Feststellung hier möglich ist) die Staatenbildung und Staatengeschichte kausal bestimmt wird (das Gesetz der natürlichen Grenzen, der Ausdehnung bis ans Meer u. s. w.). III. Eine allgemeine Kodifikation des Völkerrechts ist in der Litteratur seit Bentham durch eine ganze Reihe von Schriftstellern vorgeschlagen worden, insbesondere 1872 durch den nachmaligen Präsidenten des Instituts für Völkerrecht, den Rechtslehrer und Staatsmann Mancini, in seiner in italienischer Sprache geschrie- benen Schrift über den Beruf unseres Jahrhunderts zur Reform und Kodifikation des Völkerrechts und zur Regelung eines internatio- nalen Streitverfahrens. Unter den litterarischen Versuchen, die Rechtssätze des Völkerrechts in der Gestalt eines Gesetzbuches dar- zustellen, sind zu erwähnen: Bluntschli, Das moderne Völker- recht als Rechtsbuch dargestellt 1868, 3. Auflage 1878; Dudley- Field, Draft outlines of an International Code 1872; Fiore, Il diritto internazionale codificato e la sua sanzione giuridica 1890, 2. Aufl. 1898. Wertvolle Vorarbeiten lieferte das 1873 gegründete

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/30>, abgerufen am 29.03.2024.