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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 3. Geschichte des Völkerrechts.
erst an an den Namen des 1645 verstorbenen Hugo Grotius
(de Groot)
, der zuerst als Vorkämpfer der Meeresfreiheit (darüber
unten § 26), dann durch sein unter den Stürmen des dreissigjährigen
Krieges und in der durch sie hervorgerufenen Friedenssehnsucht
geschriebenes Hauptwerk: De jure belli ac pacis libri tres 1625
die bleibenden Grundlagen für die Weiterentwicklung der jungen
Wissenschaft legte. Eigentümlich ist Grotius die Scheidung des
positiven Rechts von dem über diesem stehenden, von Zeit und
Raum unabhängigen und unabänderlichen Naturrecht, das Gott
selbst zugleich mit der Menschennatur gesetzt hat.

Unter seinen Nachfolgern sind zu erwähnen: Zouch (+ 1660),
der als Vorläufer der spätern Positivisten angesehen werden kann;
Pufendorf (+ 1694), der, abweichend von Grotius, das positive
Völkerrecht völlig in dem Naturrecht aufgehen liess; und Christian
Wolf
(+ 1754), der gegenüber der rein idealistischen Richtung
der Pufendorfschen Schüler wieder die Scheidung des "natürlichen"
und des "positiven" Völkerrechts durchzuführen sich bemühte. Als
Wolfs Schüler hat der Schweizer Vattel (+ 1767) durch sein 1758
erschienenes Droit des gens den meisten Einfluss auf die Gelehrten
wie auf die Staatsmänner der folgenden Jahrzehnte gewonnen.

4. Den Abschluss dieser ersten Entwicklungsperiode des Völker-
rechts bildet der westfälische Frieden von 1648, das Ergebnis der
ersten allgemeinen Beratung von Vertretern fast sämtlicher euro-
päischer Staaten. Die Gleichberechtigung der christlichen Staaten,
ohne Unterschied der Konfession wie der Staatsform, und damit
die Anerkennung der christlichen Staatengemeinschaft findet ihren
Ausdruck in dem "Prinzip des europäischen Gleichgewichts" (auch
Systeme copartageant genannt). Danach hat jeder Staat das Recht,
allein oder im Bündnis mit andern, die drohende Übermacht ein-
zelner Staaten abzuwehren (bewährt und feierlich anerkannt im
Utrechter Frieden 1713). Die Unabhängigkeit der Niederlande und
der Schweiz findet die Anerkennung Europas. Die ständige Ver-
tretung der Staaten durch die an den befreundeten Höfen unter-
haltenen Gesandtschaften wird allgemein üblich.


§ 3. Geschichte des Völkerrechts.
erst an an den Namen des 1645 verstorbenen Hugo Grotius
(de Groot)
, der zuerst als Vorkämpfer der Meeresfreiheit (darüber
unten § 26), dann durch sein unter den Stürmen des dreiſsigjährigen
Krieges und in der durch sie hervorgerufenen Friedenssehnsucht
geschriebenes Hauptwerk: De jure belli ac pacis libri tres 1625
die bleibenden Grundlagen für die Weiterentwicklung der jungen
Wissenschaft legte. Eigentümlich ist Grotius die Scheidung des
positiven Rechts von dem über diesem stehenden, von Zeit und
Raum unabhängigen und unabänderlichen Naturrecht, das Gott
selbst zugleich mit der Menschennatur gesetzt hat.

Unter seinen Nachfolgern sind zu erwähnen: Zouch († 1660),
der als Vorläufer der spätern Positivisten angesehen werden kann;
Pufendorf († 1694), der, abweichend von Grotius, das positive
Völkerrecht völlig in dem Naturrecht aufgehen lieſs; und Christian
Wolf
(† 1754), der gegenüber der rein idealistischen Richtung
der Pufendorfschen Schüler wieder die Scheidung des „natürlichen“
und des „positiven“ Völkerrechts durchzuführen sich bemühte. Als
Wolfs Schüler hat der Schweizer Vattel († 1767) durch sein 1758
erschienenes Droit des gens den meisten Einfluſs auf die Gelehrten
wie auf die Staatsmänner der folgenden Jahrzehnte gewonnen.

4. Den Abschluſs dieser ersten Entwicklungsperiode des Völker-
rechts bildet der westfälische Frieden von 1648, das Ergebnis der
ersten allgemeinen Beratung von Vertretern fast sämtlicher euro-
päischer Staaten. Die Gleichberechtigung der christlichen Staaten,
ohne Unterschied der Konfession wie der Staatsform, und damit
die Anerkennung der christlichen Staatengemeinschaft findet ihren
Ausdruck in dem „Prinzip des europäischen Gleichgewichts“ (auch
Système copartageant genannt). Danach hat jeder Staat das Recht,
allein oder im Bündnis mit andern, die drohende Übermacht ein-
zelner Staaten abzuwehren (bewährt und feierlich anerkannt im
Utrechter Frieden 1713). Die Unabhängigkeit der Niederlande und
der Schweiz findet die Anerkennung Europas. Die ständige Ver-
tretung der Staaten durch die an den befreundeten Höfen unter-
haltenen Gesandtschaften wird allgemein üblich.


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[11/0033] § 3. Geschichte des Völkerrechts. erst an an den Namen des 1645 verstorbenen Hugo Grotius (de Groot), der zuerst als Vorkämpfer der Meeresfreiheit (darüber unten § 26), dann durch sein unter den Stürmen des dreiſsigjährigen Krieges und in der durch sie hervorgerufenen Friedenssehnsucht geschriebenes Hauptwerk: De jure belli ac pacis libri tres 1625 die bleibenden Grundlagen für die Weiterentwicklung der jungen Wissenschaft legte. Eigentümlich ist Grotius die Scheidung des positiven Rechts von dem über diesem stehenden, von Zeit und Raum unabhängigen und unabänderlichen Naturrecht, das Gott selbst zugleich mit der Menschennatur gesetzt hat. Unter seinen Nachfolgern sind zu erwähnen: Zouch († 1660), der als Vorläufer der spätern Positivisten angesehen werden kann; Pufendorf († 1694), der, abweichend von Grotius, das positive Völkerrecht völlig in dem Naturrecht aufgehen lieſs; und Christian Wolf († 1754), der gegenüber der rein idealistischen Richtung der Pufendorfschen Schüler wieder die Scheidung des „natürlichen“ und des „positiven“ Völkerrechts durchzuführen sich bemühte. Als Wolfs Schüler hat der Schweizer Vattel († 1767) durch sein 1758 erschienenes Droit des gens den meisten Einfluſs auf die Gelehrten wie auf die Staatsmänner der folgenden Jahrzehnte gewonnen. 4. Den Abschluſs dieser ersten Entwicklungsperiode des Völker- rechts bildet der westfälische Frieden von 1648, das Ergebnis der ersten allgemeinen Beratung von Vertretern fast sämtlicher euro- päischer Staaten. Die Gleichberechtigung der christlichen Staaten, ohne Unterschied der Konfession wie der Staatsform, und damit die Anerkennung der christlichen Staatengemeinschaft findet ihren Ausdruck in dem „Prinzip des europäischen Gleichgewichts“ (auch Système copartageant genannt). Danach hat jeder Staat das Recht, allein oder im Bündnis mit andern, die drohende Übermacht ein- zelner Staaten abzuwehren (bewährt und feierlich anerkannt im Utrechter Frieden 1713). Die Unabhängigkeit der Niederlande und der Schweiz findet die Anerkennung Europas. Die ständige Ver- tretung der Staaten durch die an den befreundeten Höfen unter- haltenen Gesandtschaften wird allgemein üblich.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/33>, abgerufen am 28.03.2024.