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Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834.

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Jahreszeiten.
zu dem Parallelkreise von 45°, und die beiden kalten Zonen wür-
den von 45° bis 90° oder bis zu den Polen gehen; und es würde,
in der obigen Bedeutung des Wortes, keine gemäßigte Zone mehr
geben. Dieser Mangel würde ohne Zweifel einen sehr wichtigen
Einfluß, nicht bloß auf die Cultur unseres Bodens, sondern auch
auf unsere geistige Bildung haben, und unserer ganzen Menschen-
geschichte eine andere Gestalt geben. So lange die Erde besteht,
ist weder in der heißen, noch in der kalten Zone irgend eine neue
Wahrheit entdeckt, oder eine Erfindung in der Wissenschaft ge-
macht worden. Die beiden Extreme der Temperatur treten der kör-
perlichen und geistigen Entwicklung des Menschen feindlich entgegen,
und nur in dem gemäßigten Erdstriche scheint die Natur mit einer
Art von Vorliebe die feinsten Genüsse, die nützlichsten Früchte
und Thiere, die edelsten und geistreichsten Menschen zu erzeugen.

Noch nachtheiliger endlich würde die Einrichtung seyn, in
welcher die Erdaxe auf der Axe der Ecliptik, also auch der Aequa-
tor auf der Ebene der Erdbahn senkrecht stünde, oder wenn die
Schiefe der Ecliptik 90 Grade betrüge. Dann würden alle drei
Zonen von dem Aequator bis zu den Polen gehen, oder jede
derselben würde, sich unabhängig von den beiden übrigen, über die
ganze Erde erstrecken. Bei dieser Lage der Ecliptik würde zur
Zeit des Anfangs des Sommers der nördlichen Hemisphäre die
Sonne senkrecht über dem Nordpol stehen, und diese Hälfte der
Erde eine längere Zeit durch beleuchten, während die andere Nacht
hat, indem die Lichtgränze für diese Zeit mit dem Aequator zu-
sammenfällt, und der Nordpol in der Mitte der heißen Zone
liegt. Bald darauf würde sich diese Lichtgränze, die den Aequa-
tor immer halbirt, auf der Ostseite gegen den Nordpol, und auf
der Westseite eben so viel gegen den Südpol ziehen, bis sie, nach
drei Monaten, zur Zeit unseres Herbstes, senkrecht auf dem Aequa-
tor steht, und durch beide Pole geht, wo daher Tag und Nacht
auf der ganzen Erde einander gleich sind. Von da dreht sich die
Lichtgränze noch weiter in derselben Richtung, bis sie endlich,
sechs Monate nach der ersten Epoche, wieder mit dem Aequator
zusammenfällt, wo dann die südliche Hälfte der Erde gegen die
Sonne gewendet, und die ganze nördliche von ihr abgekehrt ist,
so daß jetzt der Südpol die Sonne im Zenith sieht, und der Nord-

Jahreszeiten.
zu dem Parallelkreiſe von 45°, und die beiden kalten Zonen wür-
den von 45° bis 90° oder bis zu den Polen gehen; und es würde,
in der obigen Bedeutung des Wortes, keine gemäßigte Zone mehr
geben. Dieſer Mangel würde ohne Zweifel einen ſehr wichtigen
Einfluß, nicht bloß auf die Cultur unſeres Bodens, ſondern auch
auf unſere geiſtige Bildung haben, und unſerer ganzen Menſchen-
geſchichte eine andere Geſtalt geben. So lange die Erde beſteht,
iſt weder in der heißen, noch in der kalten Zone irgend eine neue
Wahrheit entdeckt, oder eine Erfindung in der Wiſſenſchaft ge-
macht worden. Die beiden Extreme der Temperatur treten der kör-
perlichen und geiſtigen Entwicklung des Menſchen feindlich entgegen,
und nur in dem gemäßigten Erdſtriche ſcheint die Natur mit einer
Art von Vorliebe die feinſten Genüſſe, die nützlichſten Früchte
und Thiere, die edelſten und geiſtreichſten Menſchen zu erzeugen.

Noch nachtheiliger endlich würde die Einrichtung ſeyn, in
welcher die Erdaxe auf der Axe der Ecliptik, alſo auch der Aequa-
tor auf der Ebene der Erdbahn ſenkrecht ſtünde, oder wenn die
Schiefe der Ecliptik 90 Grade betrüge. Dann würden alle drei
Zonen von dem Aequator bis zu den Polen gehen, oder jede
derſelben würde, ſich unabhängig von den beiden übrigen, über die
ganze Erde erſtrecken. Bei dieſer Lage der Ecliptik würde zur
Zeit des Anfangs des Sommers der nördlichen Hemiſphäre die
Sonne ſenkrecht über dem Nordpol ſtehen, und dieſe Hälfte der
Erde eine längere Zeit durch beleuchten, während die andere Nacht
hat, indem die Lichtgränze für dieſe Zeit mit dem Aequator zu-
ſammenfällt, und der Nordpol in der Mitte der heißen Zone
liegt. Bald darauf würde ſich dieſe Lichtgränze, die den Aequa-
tor immer halbirt, auf der Oſtſeite gegen den Nordpol, und auf
der Weſtſeite eben ſo viel gegen den Südpol ziehen, bis ſie, nach
drei Monaten, zur Zeit unſeres Herbſtes, ſenkrecht auf dem Aequa-
tor ſteht, und durch beide Pole geht, wo daher Tag und Nacht
auf der ganzen Erde einander gleich ſind. Von da dreht ſich die
Lichtgränze noch weiter in derſelben Richtung, bis ſie endlich,
ſechs Monate nach der erſten Epoche, wieder mit dem Aequator
zuſammenfällt, wo dann die ſüdliche Hälfte der Erde gegen die
Sonne gewendet, und die ganze nördliche von ihr abgekehrt iſt,
ſo daß jetzt der Südpol die Sonne im Zenith ſieht, und der Nord-

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[210/0222] Jahreszeiten. zu dem Parallelkreiſe von 45°, und die beiden kalten Zonen wür- den von 45° bis 90° oder bis zu den Polen gehen; und es würde, in der obigen Bedeutung des Wortes, keine gemäßigte Zone mehr geben. Dieſer Mangel würde ohne Zweifel einen ſehr wichtigen Einfluß, nicht bloß auf die Cultur unſeres Bodens, ſondern auch auf unſere geiſtige Bildung haben, und unſerer ganzen Menſchen- geſchichte eine andere Geſtalt geben. So lange die Erde beſteht, iſt weder in der heißen, noch in der kalten Zone irgend eine neue Wahrheit entdeckt, oder eine Erfindung in der Wiſſenſchaft ge- macht worden. Die beiden Extreme der Temperatur treten der kör- perlichen und geiſtigen Entwicklung des Menſchen feindlich entgegen, und nur in dem gemäßigten Erdſtriche ſcheint die Natur mit einer Art von Vorliebe die feinſten Genüſſe, die nützlichſten Früchte und Thiere, die edelſten und geiſtreichſten Menſchen zu erzeugen. Noch nachtheiliger endlich würde die Einrichtung ſeyn, in welcher die Erdaxe auf der Axe der Ecliptik, alſo auch der Aequa- tor auf der Ebene der Erdbahn ſenkrecht ſtünde, oder wenn die Schiefe der Ecliptik 90 Grade betrüge. Dann würden alle drei Zonen von dem Aequator bis zu den Polen gehen, oder jede derſelben würde, ſich unabhängig von den beiden übrigen, über die ganze Erde erſtrecken. Bei dieſer Lage der Ecliptik würde zur Zeit des Anfangs des Sommers der nördlichen Hemiſphäre die Sonne ſenkrecht über dem Nordpol ſtehen, und dieſe Hälfte der Erde eine längere Zeit durch beleuchten, während die andere Nacht hat, indem die Lichtgränze für dieſe Zeit mit dem Aequator zu- ſammenfällt, und der Nordpol in der Mitte der heißen Zone liegt. Bald darauf würde ſich dieſe Lichtgränze, die den Aequa- tor immer halbirt, auf der Oſtſeite gegen den Nordpol, und auf der Weſtſeite eben ſo viel gegen den Südpol ziehen, bis ſie, nach drei Monaten, zur Zeit unſeres Herbſtes, ſenkrecht auf dem Aequa- tor ſteht, und durch beide Pole geht, wo daher Tag und Nacht auf der ganzen Erde einander gleich ſind. Von da dreht ſich die Lichtgränze noch weiter in derſelben Richtung, bis ſie endlich, ſechs Monate nach der erſten Epoche, wieder mit dem Aequator zuſammenfällt, wo dann die ſüdliche Hälfte der Erde gegen die Sonne gewendet, und die ganze nördliche von ihr abgekehrt iſt, ſo daß jetzt der Südpol die Sonne im Zenith ſieht, und der Nord-

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Zitationshilfe: Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/222>, abgerufen am 29.03.2024.