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Mehring, Franz: Kunst und Proletariat. Stuttgart, 1896.

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Die Neue Zeit.
können es nicht als zutreffend erachten, wenn auf dem Parteitag gesagt worden
ist, die moderne Kunst lebe in einer Periode des Verfalls und könne deshalb
auch nur den Verfall schildern. Die Periode des Verfalls, in der wir leben,
ist zugleich eine Periode der Wiedergeburt. So ehrlich und wahr die moderne
Kunst die Ruinen schildern mag, so wird sie doch unehrlich und unwahr, indem
sie das neue Leben übersieht, das aus den Ruinen blüht. Wie soll sich das
Proletariat für eine Kunst begeistern, die in sehr unkünstlerischer Tendenz nichts
von dem wissen will, was sein eigenstes und ursprünglichstes Leben ist! Wes¬
halb soll es denn so viel demüthiger sein als das Bürgerthum, das in seinen
kräftigen Tagen auch nie etwas von einer Kunst wissen wollte, die nicht aus
seinem Geiste geboren war?

Die moderne Kunst ist bürgerlichen Ursprungs. Wir rechnen es ihr nicht
zur Schande an, daß sie ihren Ursprung nicht verleugnet, daß sie sich je länger
je mehr in die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft rückwärts konzentrirt. Man
kann von Niemand verlangen, daß er über seinen Schatten springen soll. Was
wir verlangen, ist nur, daß die starken Vorbehalte, welche die arbeitende Klasse
gegen die moderne Kunst macht, nicht an falschem Orte gesucht werden. Sie
liegen nicht in irgend einer Rückständigkeit des Proletariats, und wir halten es
für eine Illusion, die mit bitteren Enttäuschungen enden wird, wenn das Prole¬
tariat zum Verständniß der modernen Kunst erzogen werden soll. Mit dieser
Art Volkspädagogik hat es überhaupt seine eigene Bewandtniß. Die Frage ist
ja schon vor Jahren einmal in der "Neuen Zeit" diskutirt worden, als die
Freie Volksbühne sich zu ihrem Heile die "Erzieher" abschüttelte. Wir sind
natürlich weit davon entfernt, die "Erziehung", welche die Redaktion der "Neuen
Welt" beabsichtigt, auf dieselbe Stufe zu stellen mit dem abgeschmackten und an¬
maßenden Präzeptorenthum der anarchistisch-bürgerlichen Konfusionsräthe, die ihrer
Zeit die Freie Volksbühne beglücken wollten. Wir bestreiten durchaus nicht, daß
die ästhetische und literarische Bildung der Arbeiter noch außerordentlich gefördert
werden kann, daß für große Schichten des Proletariats hier geradezu noch alles
gethan werden muß, und wir wüßten Niemanden, der für diese Arbeit berufener
wäre, als den Redakteur der "Neuen Welt". Aber der Grundgedanke, die Ab¬
neigung der Arbeiter gegen die moderne Kunst durch ihre bessere künstlerische
Erziehung besiegen zu wollen, ist unseres Erachtens verfehlt. Zugegeben, daß
die Arbeiter aus diesem Erziehungskursus viel lernen können, so wird es schließlich
die Geschichte des Huhnes sein, das die Enteneier ausbrütet. Das Proletariat
kann und wird sich nie für eine Kunst begeistern, die mit all' seinem Denken und
Fühlen, mit allem, was ihm das Leben lebenswerth macht, in klaffendem Wider¬
spruch steht.

Man muß sich auch davor hüten, die Bedeutung der Kunst für den
Emanzipationskampf des Proletariats zu überschätzen. Die Versuchung dazu liegt
ja sehr nahe, wenn man die hohe Bedeutung erwägt, welche die Kunst für den
Emanzipationskampf ganz besonders auch des deutschen Bürgerthums gehabt hat.
Indessen wenn die bürgerliche Klasse in Deutschland ihr Heldenzeitalter auf künst¬
lerischem Gebiete gehabt hat, so doch nur, weil ihr der ökonomische und politische
Kampfplatz verschlossen war. Dagegen steht dieser Kampfplatz dem modernen
Proletariat wenigstens bis zu einem gewissen Grade offen, und es ist ebenso
natürlich wie nothwendig, daß es hier seine Kräfte zusammenfaßt. So lange es
in diesem heißen Kampfe steht, kann und wird es keine große Kunst aus seinem
Schooße gebären. Es würde eine eigene Abhandlung erfordern, diesen Gedanken
eingehend auszuführen; hier wollen wir ihn nur durch ein Beispiel erläutern.

Die Neue Zeit.
können es nicht als zutreffend erachten, wenn auf dem Parteitag geſagt worden
iſt, die moderne Kunſt lebe in einer Periode des Verfalls und könne deshalb
auch nur den Verfall ſchildern. Die Periode des Verfalls, in der wir leben,
iſt zugleich eine Periode der Wiedergeburt. So ehrlich und wahr die moderne
Kunſt die Ruinen ſchildern mag, ſo wird ſie doch unehrlich und unwahr, indem
ſie das neue Leben überſieht, das aus den Ruinen blüht. Wie ſoll ſich das
Proletariat für eine Kunſt begeiſtern, die in ſehr unkünſtleriſcher Tendenz nichts
von dem wiſſen will, was ſein eigenſtes und urſprünglichſtes Leben iſt! Wes¬
halb ſoll es denn ſo viel demüthiger ſein als das Bürgerthum, das in ſeinen
kräftigen Tagen auch nie etwas von einer Kunſt wiſſen wollte, die nicht aus
ſeinem Geiſte geboren war?

Die moderne Kunſt iſt bürgerlichen Urſprungs. Wir rechnen es ihr nicht
zur Schande an, daß ſie ihren Urſprung nicht verleugnet, daß ſie ſich je länger
je mehr in die Grenzen der bürgerlichen Geſellſchaft rückwärts konzentrirt. Man
kann von Niemand verlangen, daß er über ſeinen Schatten ſpringen ſoll. Was
wir verlangen, iſt nur, daß die ſtarken Vorbehalte, welche die arbeitende Klaſſe
gegen die moderne Kunſt macht, nicht an falſchem Orte geſucht werden. Sie
liegen nicht in irgend einer Rückſtändigkeit des Proletariats, und wir halten es
für eine Illuſion, die mit bitteren Enttäuſchungen enden wird, wenn das Prole¬
tariat zum Verſtändniß der modernen Kunſt erzogen werden ſoll. Mit dieſer
Art Volkspädagogik hat es überhaupt ſeine eigene Bewandtniß. Die Frage iſt
ja ſchon vor Jahren einmal in der „Neuen Zeit“ diskutirt worden, als die
Freie Volksbühne ſich zu ihrem Heile die „Erzieher“ abſchüttelte. Wir ſind
natürlich weit davon entfernt, die „Erziehung“, welche die Redaktion der „Neuen
Welt“ beabſichtigt, auf dieſelbe Stufe zu ſtellen mit dem abgeſchmackten und an¬
maßenden Präzeptorenthum der anarchiſtiſch-bürgerlichen Konfuſionsräthe, die ihrer
Zeit die Freie Volksbühne beglücken wollten. Wir beſtreiten durchaus nicht, daß
die äſthetiſche und literariſche Bildung der Arbeiter noch außerordentlich gefördert
werden kann, daß für große Schichten des Proletariats hier geradezu noch alles
gethan werden muß, und wir wüßten Niemanden, der für dieſe Arbeit berufener
wäre, als den Redakteur der „Neuen Welt“. Aber der Grundgedanke, die Ab¬
neigung der Arbeiter gegen die moderne Kunſt durch ihre beſſere künſtleriſche
Erziehung beſiegen zu wollen, iſt unſeres Erachtens verfehlt. Zugegeben, daß
die Arbeiter aus dieſem Erziehungskurſus viel lernen können, ſo wird es ſchließlich
die Geſchichte des Huhnes ſein, das die Enteneier ausbrütet. Das Proletariat
kann und wird ſich nie für eine Kunſt begeiſtern, die mit all' ſeinem Denken und
Fühlen, mit allem, was ihm das Leben lebenswerth macht, in klaffendem Wider¬
ſpruch ſteht.

Man muß ſich auch davor hüten, die Bedeutung der Kunſt für den
Emanzipationskampf des Proletariats zu überſchätzen. Die Verſuchung dazu liegt
ja ſehr nahe, wenn man die hohe Bedeutung erwägt, welche die Kunſt für den
Emanzipationskampf ganz beſonders auch des deutſchen Bürgerthums gehabt hat.
Indeſſen wenn die bürgerliche Klaſſe in Deutſchland ihr Heldenzeitalter auf künſt¬
leriſchem Gebiete gehabt hat, ſo doch nur, weil ihr der ökonomiſche und politiſche
Kampfplatz verſchloſſen war. Dagegen ſteht dieſer Kampfplatz dem modernen
Proletariat wenigſtens bis zu einem gewiſſen Grade offen, und es iſt ebenſo
natürlich wie nothwendig, daß es hier ſeine Kräfte zuſammenfaßt. So lange es
in dieſem heißen Kampfe ſteht, kann und wird es keine große Kunſt aus ſeinem
Schooße gebären. Es würde eine eigene Abhandlung erfordern, dieſen Gedanken
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[132/0018] Die Neue Zeit. können es nicht als zutreffend erachten, wenn auf dem Parteitag geſagt worden iſt, die moderne Kunſt lebe in einer Periode des Verfalls und könne deshalb auch nur den Verfall ſchildern. Die Periode des Verfalls, in der wir leben, iſt zugleich eine Periode der Wiedergeburt. So ehrlich und wahr die moderne Kunſt die Ruinen ſchildern mag, ſo wird ſie doch unehrlich und unwahr, indem ſie das neue Leben überſieht, das aus den Ruinen blüht. Wie ſoll ſich das Proletariat für eine Kunſt begeiſtern, die in ſehr unkünſtleriſcher Tendenz nichts von dem wiſſen will, was ſein eigenſtes und urſprünglichſtes Leben iſt! Wes¬ halb ſoll es denn ſo viel demüthiger ſein als das Bürgerthum, das in ſeinen kräftigen Tagen auch nie etwas von einer Kunſt wiſſen wollte, die nicht aus ſeinem Geiſte geboren war? Die moderne Kunſt iſt bürgerlichen Urſprungs. Wir rechnen es ihr nicht zur Schande an, daß ſie ihren Urſprung nicht verleugnet, daß ſie ſich je länger je mehr in die Grenzen der bürgerlichen Geſellſchaft rückwärts konzentrirt. Man kann von Niemand verlangen, daß er über ſeinen Schatten ſpringen ſoll. Was wir verlangen, iſt nur, daß die ſtarken Vorbehalte, welche die arbeitende Klaſſe gegen die moderne Kunſt macht, nicht an falſchem Orte geſucht werden. Sie liegen nicht in irgend einer Rückſtändigkeit des Proletariats, und wir halten es für eine Illuſion, die mit bitteren Enttäuſchungen enden wird, wenn das Prole¬ tariat zum Verſtändniß der modernen Kunſt erzogen werden ſoll. Mit dieſer Art Volkspädagogik hat es überhaupt ſeine eigene Bewandtniß. Die Frage iſt ja ſchon vor Jahren einmal in der „Neuen Zeit“ diskutirt worden, als die Freie Volksbühne ſich zu ihrem Heile die „Erzieher“ abſchüttelte. Wir ſind natürlich weit davon entfernt, die „Erziehung“, welche die Redaktion der „Neuen Welt“ beabſichtigt, auf dieſelbe Stufe zu ſtellen mit dem abgeſchmackten und an¬ maßenden Präzeptorenthum der anarchiſtiſch-bürgerlichen Konfuſionsräthe, die ihrer Zeit die Freie Volksbühne beglücken wollten. Wir beſtreiten durchaus nicht, daß die äſthetiſche und literariſche Bildung der Arbeiter noch außerordentlich gefördert werden kann, daß für große Schichten des Proletariats hier geradezu noch alles gethan werden muß, und wir wüßten Niemanden, der für dieſe Arbeit berufener wäre, als den Redakteur der „Neuen Welt“. Aber der Grundgedanke, die Ab¬ neigung der Arbeiter gegen die moderne Kunſt durch ihre beſſere künſtleriſche Erziehung beſiegen zu wollen, iſt unſeres Erachtens verfehlt. Zugegeben, daß die Arbeiter aus dieſem Erziehungskurſus viel lernen können, ſo wird es ſchließlich die Geſchichte des Huhnes ſein, das die Enteneier ausbrütet. Das Proletariat kann und wird ſich nie für eine Kunſt begeiſtern, die mit all' ſeinem Denken und Fühlen, mit allem, was ihm das Leben lebenswerth macht, in klaffendem Wider¬ ſpruch ſteht. Man muß ſich auch davor hüten, die Bedeutung der Kunſt für den Emanzipationskampf des Proletariats zu überſchätzen. Die Verſuchung dazu liegt ja ſehr nahe, wenn man die hohe Bedeutung erwägt, welche die Kunſt für den Emanzipationskampf ganz beſonders auch des deutſchen Bürgerthums gehabt hat. Indeſſen wenn die bürgerliche Klaſſe in Deutſchland ihr Heldenzeitalter auf künſt¬ leriſchem Gebiete gehabt hat, ſo doch nur, weil ihr der ökonomiſche und politiſche Kampfplatz verſchloſſen war. Dagegen ſteht dieſer Kampfplatz dem modernen Proletariat wenigſtens bis zu einem gewiſſen Grade offen, und es iſt ebenſo natürlich wie nothwendig, daß es hier ſeine Kräfte zuſammenfaßt. So lange es in dieſem heißen Kampfe ſteht, kann und wird es keine große Kunſt aus ſeinem Schooße gebären. Es würde eine eigene Abhandlung erfordern, dieſen Gedanken eingehend auszuführen; hier wollen wir ihn nur durch ein Beiſpiel erläutern.

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Zitationshilfe: Mehring, Franz: Kunst und Proletariat. Stuttgart, 1896, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mehring_kunst_1896/18>, abgerufen am 29.03.2024.