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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Stückchen vom Gewand eines Heiligen. Nachdem
ers lange gnug betrachtet hatte, schloß ers sorgfäl-
tig in seinen Schreibpult; holte es aber alle Au-
genblicke wieder heraus, um es von neuem wieder
anzusehen. -- Als er noch weiter blätterte, fand
er auch ein Schnippelchen Papier, auf welchem
Marianens Name stand. Er sprang hoch auf, hub
es in die Höhe, drückte es hundertmal an seinen
Mund, und an sein Herz, und betrachtete jeden
Zug unzähligemal.

Endlich entdeckte er auch seinem Kronhelm ei-
nen Entwurf, den er schon lang bey sich selbst ge-
macht hatte, ob sie nämlich nicht Gutfrieds Zim-
mer beziehen wollten? Er hatte schon Erfahrung
eingezogen, daß in dem Hause noch ein andres Zim-
mer ledig sey, worauf also Kronhelm wohnen kön-
ne. Es thut mir zwar leid, unsre Hausleute zu
verlassen, sagte er, weil es ehrliche und brave Leu-
te sind; aber ich will ihnen gern noch ein halb
Jahr Hausmiethe bezahlen, um nur bald meiner
Mariane näher zu kommen. Kronhelm, der sei-
nem Freund alles zu Gefallen that, willigte sehr
gern in diesen Vorschlag, und nach wenig Tagen
bezogen sie das Zimmer. Nun sah Siegwart sein
geliebtes Mädchen täglich, und fast stündlich. Er



Stuͤckchen vom Gewand eines Heiligen. Nachdem
ers lange gnug betrachtet hatte, ſchloß ers ſorgfaͤl-
tig in ſeinen Schreibpult; holte es aber alle Au-
genblicke wieder heraus, um es von neuem wieder
anzuſehen. — Als er noch weiter blaͤtterte, fand
er auch ein Schnippelchen Papier, auf welchem
Marianens Name ſtand. Er ſprang hoch auf, hub
es in die Hoͤhe, druͤckte es hundertmal an ſeinen
Mund, und an ſein Herz, und betrachtete jeden
Zug unzaͤhligemal.

Endlich entdeckte er auch ſeinem Kronhelm ei-
nen Entwurf, den er ſchon lang bey ſich ſelbſt ge-
macht hatte, ob ſie naͤmlich nicht Gutfrieds Zim-
mer beziehen wollten? Er hatte ſchon Erfahrung
eingezogen, daß in dem Hauſe noch ein andres Zim-
mer ledig ſey, worauf alſo Kronhelm wohnen koͤn-
ne. Es thut mir zwar leid, unſre Hausleute zu
verlaſſen, ſagte er, weil es ehrliche und brave Leu-
te ſind; aber ich will ihnen gern noch ein halb
Jahr Hausmiethe bezahlen, um nur bald meiner
Mariane naͤher zu kommen. Kronhelm, der ſei-
nem Freund alles zu Gefallen that, willigte ſehr
gern in dieſen Vorſchlag, und nach wenig Tagen
bezogen ſie das Zimmer. Nun ſah Siegwart ſein
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[685/0265] Stuͤckchen vom Gewand eines Heiligen. Nachdem ers lange gnug betrachtet hatte, ſchloß ers ſorgfaͤl- tig in ſeinen Schreibpult; holte es aber alle Au- genblicke wieder heraus, um es von neuem wieder anzuſehen. — Als er noch weiter blaͤtterte, fand er auch ein Schnippelchen Papier, auf welchem Marianens Name ſtand. Er ſprang hoch auf, hub es in die Hoͤhe, druͤckte es hundertmal an ſeinen Mund, und an ſein Herz, und betrachtete jeden Zug unzaͤhligemal. Endlich entdeckte er auch ſeinem Kronhelm ei- nen Entwurf, den er ſchon lang bey ſich ſelbſt ge- macht hatte, ob ſie naͤmlich nicht Gutfrieds Zim- mer beziehen wollten? Er hatte ſchon Erfahrung eingezogen, daß in dem Hauſe noch ein andres Zim- mer ledig ſey, worauf alſo Kronhelm wohnen koͤn- ne. Es thut mir zwar leid, unſre Hausleute zu verlaſſen, ſagte er, weil es ehrliche und brave Leu- te ſind; aber ich will ihnen gern noch ein halb Jahr Hausmiethe bezahlen, um nur bald meiner Mariane naͤher zu kommen. Kronhelm, der ſei- nem Freund alles zu Gefallen that, willigte ſehr gern in dieſen Vorſchlag, und nach wenig Tagen bezogen ſie das Zimmer. Nun ſah Siegwart ſein geliebtes Maͤdchen taͤglich, und faſt ſtuͤndlich. Er

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/265>, abgerufen am 19.04.2024.