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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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gieng er geradezu in Marianens Haus, und ver-
langte, sie zu sprechen. Sie kam zu ihm aufs
Besuchzimmer. Verzeihen Sie! sagte er, und
gab ihr seines Vaters Brief; ich mußte Sie noch
sprechen. Sie las, konnte den Brief kaum vor
Zittern halten, ward bald roth, bald blaß, gieng
endlich auf ihren Siegwart schweigend zu, und
sank weinend in seinen Arm. Gott steh Jhnen
bey! sagte sie nach einiger Zeit. -- Ach, meine
Liebe, antwortete er; ich muß noch heute sort. --
Aber, vergessen Sie mich nicht! O vergessen Sie
mich nicht! Jch will sobald als möglich wieder
kommen. Wollten Sie mir wol einmal einen Brief
schreiben, meine Liebe? -- Wie kann ich das?
fragte sie. -- Durch Jhren Bruder, war die
Antwort. -- Gut, ich will es thun, sagte sie. Aber
kommen Sie nur bald wieder zurück! Jch will für
Sie, und für die Genesung Jhres Vaters beten.
Er versprach noch einmal, aufs möglichstbaldeste
zu kommen, und ihr durch ihren Bruder sogleich
von Haus aus zu schreiben, wie es mit ihm und
seinem Vater stünde. Sie umarmten sich noch
einmal aufs zärtlichste, und konnten vor Schluch-
zen kein Wort sprechen. Siegwart gieng noch auf
einige Augenblicke zu Marianens Mutter, um



gieng er geradezu in Marianens Haus, und ver-
langte, ſie zu ſprechen. Sie kam zu ihm aufs
Beſuchzimmer. Verzeihen Sie! ſagte er, und
gab ihr ſeines Vaters Brief; ich mußte Sie noch
ſprechen. Sie las, konnte den Brief kaum vor
Zittern halten, ward bald roth, bald blaß, gieng
endlich auf ihren Siegwart ſchweigend zu, und
ſank weinend in ſeinen Arm. Gott ſteh Jhnen
bey! ſagte ſie nach einiger Zeit. — Ach, meine
Liebe, antwortete er; ich muß noch heute ſort. —
Aber, vergeſſen Sie mich nicht! O vergeſſen Sie
mich nicht! Jch will ſobald als moͤglich wieder
kommen. Wollten Sie mir wol einmal einen Brief
ſchreiben, meine Liebe? — Wie kann ich das?
fragte ſie. — Durch Jhren Bruder, war die
Antwort. — Gut, ich will es thun, ſagte ſie. Aber
kommen Sie nur bald wieder zuruͤck! Jch will fuͤr
Sie, und fuͤr die Geneſung Jhres Vaters beten.
Er verſprach noch einmal, aufs moͤglichſtbaldeſte
zu kommen, und ihr durch ihren Bruder ſogleich
von Haus aus zu ſchreiben, wie es mit ihm und
ſeinem Vater ſtuͤnde. Sie umarmten ſich noch
einmal aufs zaͤrtlichſte, und konnten vor Schluch-
zen kein Wort ſprechen. Siegwart gieng noch auf
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[872/0452] gieng er geradezu in Marianens Haus, und ver- langte, ſie zu ſprechen. Sie kam zu ihm aufs Beſuchzimmer. Verzeihen Sie! ſagte er, und gab ihr ſeines Vaters Brief; ich mußte Sie noch ſprechen. Sie las, konnte den Brief kaum vor Zittern halten, ward bald roth, bald blaß, gieng endlich auf ihren Siegwart ſchweigend zu, und ſank weinend in ſeinen Arm. Gott ſteh Jhnen bey! ſagte ſie nach einiger Zeit. — Ach, meine Liebe, antwortete er; ich muß noch heute ſort. — Aber, vergeſſen Sie mich nicht! O vergeſſen Sie mich nicht! Jch will ſobald als moͤglich wieder kommen. Wollten Sie mir wol einmal einen Brief ſchreiben, meine Liebe? — Wie kann ich das? fragte ſie. — Durch Jhren Bruder, war die Antwort. — Gut, ich will es thun, ſagte ſie. Aber kommen Sie nur bald wieder zuruͤck! Jch will fuͤr Sie, und fuͤr die Geneſung Jhres Vaters beten. Er verſprach noch einmal, aufs moͤglichſtbaldeſte zu kommen, und ihr durch ihren Bruder ſogleich von Haus aus zu ſchreiben, wie es mit ihm und ſeinem Vater ſtuͤnde. Sie umarmten ſich noch einmal aufs zaͤrtlichſte, und konnten vor Schluch- zen kein Wort ſprechen. Siegwart gieng noch auf einige Augenblicke zu Marianens Mutter, um

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 872. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/452>, abgerufen am 28.03.2024.