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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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selbst wenig zu seinem Trost zu sagen. Sein eig-
nes Herz litt zu viel bey den Qualen seines jungen
Freundes. Er hatte selbst einmal unglücklich ge-
liebt; und die Erinnerung aller seiner vorigen Lei-
den kehrte wieder in sein Herz zurück. Kronhelm
sprach wenig; er sah immer mit seinen Blicken
starr auf Einen Ort, und schien gar nichts mehr
zu fühlen. Zuweilen nur ward sein Körper durch
einen hervorbrechenden Seufzer ungewöhnlich stark
erschüttert. Die ganze Nacht ächzte er, und Sieg-
wart, der nicht schlafen konnte, aber doch sich stell-
te, als ob er schliefe, hörte ihn oft mit sich selbst,
aber immer abgebrochen, sprechen. Er litt bey
den Leiden seines Freundes, und bey den Qualen
seiner Schwester, deren tieffühlendes Herz er kann-
te, unendlich viel. Den andern Morgen saß
Kronhelm immer auf der Stube, und schrieb;
denn es war ein Sonntag. Siegwart störte ihn
nicht, und schrieb indessen an seine Schwester.
Endlich gab ihm Kronhelm ein Blatt, und sagte:
Jch will deiner Schwester keinen Brief mehr schrei-
ben, sie hat mirs verboten. Aber nur um Eine
Wohlthat fleh ich dich; die must du mir gewäh-
ren. Schreib dieses Blatt ab, es ist kein Brief,
was ich geschrieben habe. Es ist mein letztes Ver-



ſelbſt wenig zu ſeinem Troſt zu ſagen. Sein eig-
nes Herz litt zu viel bey den Qualen ſeines jungen
Freundes. Er hatte ſelbſt einmal ungluͤcklich ge-
liebt; und die Erinnerung aller ſeiner vorigen Lei-
den kehrte wieder in ſein Herz zuruͤck. Kronhelm
ſprach wenig; er ſah immer mit ſeinen Blicken
ſtarr auf Einen Ort, und ſchien gar nichts mehr
zu fuͤhlen. Zuweilen nur ward ſein Koͤrper durch
einen hervorbrechenden Seufzer ungewoͤhnlich ſtark
erſchuͤttert. Die ganze Nacht aͤchzte er, und Sieg-
wart, der nicht ſchlafen konnte, aber doch ſich ſtell-
te, als ob er ſchliefe, hoͤrte ihn oft mit ſich ſelbſt,
aber immer abgebrochen, ſprechen. Er litt bey
den Leiden ſeines Freundes, und bey den Qualen
ſeiner Schweſter, deren tieffuͤhlendes Herz er kann-
te, unendlich viel. Den andern Morgen ſaß
Kronhelm immer auf der Stube, und ſchrieb;
denn es war ein Sonntag. Siegwart ſtoͤrte ihn
nicht, und ſchrieb indeſſen an ſeine Schweſter.
Endlich gab ihm Kronhelm ein Blatt, und ſagte:
Jch will deiner Schweſter keinen Brief mehr ſchrei-
ben, ſie hat mirs verboten. Aber nur um Eine
Wohlthat fleh ich dich; die muſt du mir gewaͤh-
ren. Schreib dieſes Blatt ab, es iſt kein Brief,
was ich geſchrieben habe. Es iſt mein letztes Ver-

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[466/0046] ſelbſt wenig zu ſeinem Troſt zu ſagen. Sein eig- nes Herz litt zu viel bey den Qualen ſeines jungen Freundes. Er hatte ſelbſt einmal ungluͤcklich ge- liebt; und die Erinnerung aller ſeiner vorigen Lei- den kehrte wieder in ſein Herz zuruͤck. Kronhelm ſprach wenig; er ſah immer mit ſeinen Blicken ſtarr auf Einen Ort, und ſchien gar nichts mehr zu fuͤhlen. Zuweilen nur ward ſein Koͤrper durch einen hervorbrechenden Seufzer ungewoͤhnlich ſtark erſchuͤttert. Die ganze Nacht aͤchzte er, und Sieg- wart, der nicht ſchlafen konnte, aber doch ſich ſtell- te, als ob er ſchliefe, hoͤrte ihn oft mit ſich ſelbſt, aber immer abgebrochen, ſprechen. Er litt bey den Leiden ſeines Freundes, und bey den Qualen ſeiner Schweſter, deren tieffuͤhlendes Herz er kann- te, unendlich viel. Den andern Morgen ſaß Kronhelm immer auf der Stube, und ſchrieb; denn es war ein Sonntag. Siegwart ſtoͤrte ihn nicht, und ſchrieb indeſſen an ſeine Schweſter. Endlich gab ihm Kronhelm ein Blatt, und ſagte: Jch will deiner Schweſter keinen Brief mehr ſchrei- ben, ſie hat mirs verboten. Aber nur um Eine Wohlthat fleh ich dich; die muſt du mir gewaͤh- ren. Schreib dieſes Blatt ab, es iſt kein Brief, was ich geſchrieben habe. Es iſt mein letztes Ver-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/46>, abgerufen am 24.04.2024.