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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Jn der Kirche ward vom Prediger des Dorfs
eine kleine, aber rührende Rede, und dann eine
Seelmesse gehalten, und der Zug gieng wieder lang-
sam nach Haus. Die beyden Amtleute blieben
beym Mittagsessen da. Siegwart hörte nur zu,
und sprach fast nichts mit. Als sie weggegangen
waren, gieng er auf sein Zimmer. Jetzt konnte
er erst wieder mit etwas Ruhe an seine Mariane
denken. Seine Seele sehnte sich nach ihr. Er
beschloß, noch heute mit seinen Geschwistern davon
zu sprechen, daß er nun die Rechte zu studiren
gedenke, und daß ihm also Geld von der Masse,
oder von seinem Antheil an der Erbschaft dazu ge-
geben werde. Allein diesen Abend konnte er da-
von nicht reden, weil der Pfarrer zum Kondoli-
ren kam, und zum Abendessen da behalten wurde.

Den andern Morgen gieng er, nachdem er erst
mit Salome Kaffee getrunken hatte, mit ihr zu
seinem Bruder in sein Haus hinüber. Nach eini-
gen gleichgültigen Gesprächen fragte er, ob der seli-
ge Vater nichts wegen seiner gesagt habe, daß er
nun die Rechte studiren könne? -- Was? die Rech-
te? fuhr Karl heraus; was ist das wieder für ein
schöner Einfall? Siegwart erzählte, daß er seinem
Vater deswegen geschrieben, und schon seine Ein-



Jn der Kirche ward vom Prediger des Dorfs
eine kleine, aber ruͤhrende Rede, und dann eine
Seelmeſſe gehalten, und der Zug gieng wieder lang-
ſam nach Haus. Die beyden Amtleute blieben
beym Mittagseſſen da. Siegwart hoͤrte nur zu,
und ſprach faſt nichts mit. Als ſie weggegangen
waren, gieng er auf ſein Zimmer. Jetzt konnte
er erſt wieder mit etwas Ruhe an ſeine Mariane
denken. Seine Seele ſehnte ſich nach ihr. Er
beſchloß, noch heute mit ſeinen Geſchwiſtern davon
zu ſprechen, daß er nun die Rechte zu ſtudiren
gedenke, und daß ihm alſo Geld von der Maſſe,
oder von ſeinem Antheil an der Erbſchaft dazu ge-
geben werde. Allein dieſen Abend konnte er da-
von nicht reden, weil der Pfarrer zum Kondoli-
ren kam, und zum Abendeſſen da behalten wurde.

Den andern Morgen gieng er, nachdem er erſt
mit Salome Kaffee getrunken hatte, mit ihr zu
ſeinem Bruder in ſein Haus hinuͤber. Nach eini-
gen gleichguͤltigen Geſpraͤchen fragte er, ob der ſeli-
ge Vater nichts wegen ſeiner geſagt habe, daß er
nun die Rechte ſtudiren koͤnne? — Was? die Rech-
te? fuhr Karl heraus; was iſt das wieder fuͤr ein
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[882/0462] Jn der Kirche ward vom Prediger des Dorfs eine kleine, aber ruͤhrende Rede, und dann eine Seelmeſſe gehalten, und der Zug gieng wieder lang- ſam nach Haus. Die beyden Amtleute blieben beym Mittagseſſen da. Siegwart hoͤrte nur zu, und ſprach faſt nichts mit. Als ſie weggegangen waren, gieng er auf ſein Zimmer. Jetzt konnte er erſt wieder mit etwas Ruhe an ſeine Mariane denken. Seine Seele ſehnte ſich nach ihr. Er beſchloß, noch heute mit ſeinen Geſchwiſtern davon zu ſprechen, daß er nun die Rechte zu ſtudiren gedenke, und daß ihm alſo Geld von der Maſſe, oder von ſeinem Antheil an der Erbſchaft dazu ge- geben werde. Allein dieſen Abend konnte er da- von nicht reden, weil der Pfarrer zum Kondoli- ren kam, und zum Abendeſſen da behalten wurde. Den andern Morgen gieng er, nachdem er erſt mit Salome Kaffee getrunken hatte, mit ihr zu ſeinem Bruder in ſein Haus hinuͤber. Nach eini- gen gleichguͤltigen Geſpraͤchen fragte er, ob der ſeli- ge Vater nichts wegen ſeiner geſagt habe, daß er nun die Rechte ſtudiren koͤnne? — Was? die Rech- te? fuhr Karl heraus; was iſt das wieder fuͤr ein ſchoͤner Einfall? Siegwart erzaͤhlte, daß er ſeinem Vater deswegen geſchrieben, und ſchon ſeine Ein-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 882. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/462>, abgerufen am 19.04.2024.