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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Ach Geliebtester, du säumest, und kommst nicht,
deine Mariane zu erretten; wenigstens sie noch ein-
mal zu sehen. Leb denn wohl, du Theurer, den
ich wie mein eigen Leben liebte! Gottes Gnade
leite dich durchs Thal der Leiden! Denk oft an dei-
ne Mariane! Sie wird dein seyn, bis sie todt ist.
Zwischen dunkeln Mauren wird sie weinen, und
an dich gedenken, wenn der Tag anfängt. Wenn
der Mond in ihre Zelle scheint, wird sie deiner noch
gedenken, und der alten Zeiten, und weinen.
Blick auf zum Mond, so oft er scheint! Meine
Seele wird stets an ihm hangen, und mein Aug
an ihm verweilen; und dann werd ich denken, daß
auch du zu ihm hinausblickst, und an mich ge-
denkst, und an die Stunden unsrer Liebe, und an
meine Thränen. Denke dann auch, daß wir einst
im Grabe ruhen, und daß unsre Seelen wandeln
werden auf des Mondes lieblichen Gefilden! Daß
uns Gott vereinen wird nach unserm Tode, weil
er uns vereinigt hat im Leben! -- Das Papier
geht zu Ende. Noch ein paar Worte muß ich
unten hin an meinen Bruder schreiben. Gott ge-
be, daß du dieses Blatt bekommst! Du wirst wei-
nen; aber es enthält auch Trost. -- Leb wohl,
leb ewig wohl, Geliebtester! Hier auf dieser Welt



Ach Geliebteſter, du ſaͤumeſt, und kommſt nicht,
deine Mariane zu erretten; wenigſtens ſie noch ein-
mal zu ſehen. Leb denn wohl, du Theurer, den
ich wie mein eigen Leben liebte! Gottes Gnade
leite dich durchs Thal der Leiden! Denk oft an dei-
ne Mariane! Sie wird dein ſeyn, bis ſie todt iſt.
Zwiſchen dunkeln Mauren wird ſie weinen, und
an dich gedenken, wenn der Tag anfaͤngt. Wenn
der Mond in ihre Zelle ſcheint, wird ſie deiner noch
gedenken, und der alten Zeiten, und weinen.
Blick auf zum Mond, ſo oft er ſcheint! Meine
Seele wird ſtets an ihm hangen, und mein Aug
an ihm verweilen; und dann werd ich denken, daß
auch du zu ihm hinauſblickſt, und an mich ge-
denkſt, und an die Stunden unſrer Liebe, und an
meine Thraͤnen. Denke dann auch, daß wir einſt
im Grabe ruhen, und daß unſre Seelen wandeln
werden auf des Mondes lieblichen Gefilden! Daß
uns Gott vereinen wird nach unſerm Tode, weil
er uns vereinigt hat im Leben! — Das Papier
geht zu Ende. Noch ein paar Worte muß ich
unten hin an meinen Bruder ſchreiben. Gott ge-
be, daß du dieſes Blatt bekommſt! Du wirſt wei-
nen; aber es enthaͤlt auch Troſt. — Leb wohl,
leb ewig wohl, Geliebteſter! Hier auf dieſer Welt

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[915/0495] Ach Geliebteſter, du ſaͤumeſt, und kommſt nicht, deine Mariane zu erretten; wenigſtens ſie noch ein- mal zu ſehen. Leb denn wohl, du Theurer, den ich wie mein eigen Leben liebte! Gottes Gnade leite dich durchs Thal der Leiden! Denk oft an dei- ne Mariane! Sie wird dein ſeyn, bis ſie todt iſt. Zwiſchen dunkeln Mauren wird ſie weinen, und an dich gedenken, wenn der Tag anfaͤngt. Wenn der Mond in ihre Zelle ſcheint, wird ſie deiner noch gedenken, und der alten Zeiten, und weinen. Blick auf zum Mond, ſo oft er ſcheint! Meine Seele wird ſtets an ihm hangen, und mein Aug an ihm verweilen; und dann werd ich denken, daß auch du zu ihm hinauſblickſt, und an mich ge- denkſt, und an die Stunden unſrer Liebe, und an meine Thraͤnen. Denke dann auch, daß wir einſt im Grabe ruhen, und daß unſre Seelen wandeln werden auf des Mondes lieblichen Gefilden! Daß uns Gott vereinen wird nach unſerm Tode, weil er uns vereinigt hat im Leben! — Das Papier geht zu Ende. Noch ein paar Worte muß ich unten hin an meinen Bruder ſchreiben. Gott ge- be, daß du dieſes Blatt bekommſt! Du wirſt wei- nen; aber es enthaͤlt auch Troſt. — Leb wohl, leb ewig wohl, Geliebteſter! Hier auf dieſer Welt

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 915. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/495>, abgerufen am 28.03.2024.