Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



Mir ist nicht recht wohl, antwortete er; mach sie
mir eilig eine recht gute und warme Suppe!
Es wird schon besser werden! Sie bedaurte ihn
von Herzen, zündete das Licht an, und gieng
weg. Er versuchte indeß den Brief von Maria-
nens Bruder zu lesen; aber die Augen giengen
ihm über, und die Buchstaben flossen all vor ihm
ineinander, daß er schwarz und weiß nicht von
einander unterscheiden konnte. Die Aufwärterin
brachte ihm eine gute warme Weinsuppe; er aß,
und fühlte sich darauf wieder etwas gestärkt.
Mit vieler Mühe brachte er die Magd von sei-
nem Zimmer, sie war sehr besorgt, und wollte
ihm durchaus einen Doktor holen. Als sie weg
war, nahm er Josephs Brief wieder vor sich,
und las:

Lieber Siegwart!

Jch erfülle die traurige Bitte meiner Schwe-
ster, gebe Dir ihren Brief, und soviel Nachricht,
als ich von ihr geben kann. Gestern früh um 3
Uhr wurde sie, ohne daß ich sie noch sprechen
durste, mein Vater und meine Mutter sprachen
sie auch nicht mehr, in den Wagen geführt, in



Mir iſt nicht recht wohl, antwortete er; mach ſie
mir eilig eine recht gute und warme Suppe!
Es wird ſchon beſſer werden! Sie bedaurte ihn
von Herzen, zuͤndete das Licht an, und gieng
weg. Er verſuchte indeß den Brief von Maria-
nens Bruder zu leſen; aber die Augen giengen
ihm uͤber, und die Buchſtaben floſſen all vor ihm
ineinander, daß er ſchwarz und weiß nicht von
einander unterſcheiden konnte. Die Aufwaͤrterin
brachte ihm eine gute warme Weinſuppe; er aß,
und fuͤhlte ſich darauf wieder etwas geſtaͤrkt.
Mit vieler Muͤhe brachte er die Magd von ſei-
nem Zimmer, ſie war ſehr beſorgt, und wollte
ihm durchaus einen Doktor holen. Als ſie weg
war, nahm er Joſephs Brief wieder vor ſich,
und las:

Lieber Siegwart!

Jch erfuͤlle die traurige Bitte meiner Schwe-
ſter, gebe Dir ihren Brief, und ſoviel Nachricht,
als ich von ihr geben kann. Geſtern fruͤh um 3
Uhr wurde ſie, ohne daß ich ſie noch ſprechen
durſte, mein Vater und meine Mutter ſprachen
ſie auch nicht mehr, in den Wagen gefuͤhrt, in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0498" n="918"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Mir i&#x017F;t nicht recht wohl, antwortete er; mach &#x017F;ie<lb/>
mir eilig eine recht gute und warme Suppe!<lb/>
Es wird &#x017F;chon be&#x017F;&#x017F;er werden! Sie bedaurte ihn<lb/>
von Herzen, zu&#x0364;ndete das Licht an, und gieng<lb/>
weg. Er ver&#x017F;uchte indeß den Brief von Maria-<lb/>
nens Bruder zu le&#x017F;en; aber die Augen giengen<lb/>
ihm u&#x0364;ber, und die Buch&#x017F;taben flo&#x017F;&#x017F;en all vor ihm<lb/>
ineinander, daß er &#x017F;chwarz und weiß nicht von<lb/>
einander unter&#x017F;cheiden konnte. Die Aufwa&#x0364;rterin<lb/>
brachte ihm eine gute warme Wein&#x017F;uppe; er aß,<lb/>
und fu&#x0364;hlte &#x017F;ich darauf wieder etwas ge&#x017F;ta&#x0364;rkt.<lb/>
Mit vieler Mu&#x0364;he brachte er die Magd von &#x017F;ei-<lb/>
nem Zimmer, &#x017F;ie war &#x017F;ehr be&#x017F;orgt, und wollte<lb/>
ihm durchaus einen Doktor holen. Als &#x017F;ie weg<lb/>
war, nahm er Jo&#x017F;ephs Brief wieder vor &#x017F;ich,<lb/>
und las:<lb/><floatingText><body><div type="letter"><dateline><hi rendition="#et">Den 11ten Augu&#x017F;t.</hi></dateline><lb/><opener><salute><hi rendition="#et">Lieber Siegwart!</hi></salute></opener><lb/><p>Jch erfu&#x0364;lle die traurige Bitte meiner Schwe-<lb/>
&#x017F;ter, gebe Dir ihren Brief, und &#x017F;oviel Nachricht,<lb/>
als ich von ihr geben kann. Ge&#x017F;tern fru&#x0364;h um 3<lb/>
Uhr wurde &#x017F;ie, ohne daß ich &#x017F;ie noch &#x017F;prechen<lb/>
dur&#x017F;te, mein Vater und meine Mutter &#x017F;prachen<lb/>
&#x017F;ie auch nicht mehr, in den Wagen gefu&#x0364;hrt, in<lb/></p></div></body></floatingText></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[918/0498] Mir iſt nicht recht wohl, antwortete er; mach ſie mir eilig eine recht gute und warme Suppe! Es wird ſchon beſſer werden! Sie bedaurte ihn von Herzen, zuͤndete das Licht an, und gieng weg. Er verſuchte indeß den Brief von Maria- nens Bruder zu leſen; aber die Augen giengen ihm uͤber, und die Buchſtaben floſſen all vor ihm ineinander, daß er ſchwarz und weiß nicht von einander unterſcheiden konnte. Die Aufwaͤrterin brachte ihm eine gute warme Weinſuppe; er aß, und fuͤhlte ſich darauf wieder etwas geſtaͤrkt. Mit vieler Muͤhe brachte er die Magd von ſei- nem Zimmer, ſie war ſehr beſorgt, und wollte ihm durchaus einen Doktor holen. Als ſie weg war, nahm er Joſephs Brief wieder vor ſich, und las: Den 11ten Auguſt. Lieber Siegwart! Jch erfuͤlle die traurige Bitte meiner Schwe- ſter, gebe Dir ihren Brief, und ſoviel Nachricht, als ich von ihr geben kann. Geſtern fruͤh um 3 Uhr wurde ſie, ohne daß ich ſie noch ſprechen durſte, mein Vater und meine Mutter ſprachen ſie auch nicht mehr, in den Wagen gefuͤhrt, in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/498
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 918. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/498>, abgerufen am 24.04.2024.