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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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fallen, sank vorwärts auf den Tisch, verbarg sein
Gesicht in beyde Arme, und lag so eine halbe Stun-
de, seiner nur halb bewust da, bis die Aufwärte-
rin wieder kam, sich nach ihm zu erkundigen. Er
ließ sich von ihr halb auskleiden, und gieng zu
Bette. Nun, da sich seine Natur wieder etwas
erholt hatte, gieng erst sein Seelenleiden an; nun
konnte er erst sein Unglück überdenken, und in sei-
ner ganzen Grösse fassen. Er schauderte zuweilen
zurück, als ob er in einen Abgrund hinabblickte.
Alles war noch Nacht vor ihm. Er konnte nichts
denken, als: sie ist verlohren! Die halbe Nacht
quälte er sich mit diesem einzigen Gedanken, ohne
all sein Schrecken halb auszudenken. Oft gränzte
seine Muthlosigkeit nah an Verzweiflung, und
dann bat er wieder Gott, ihn nicht ganz zu ver-
lassen! Wie glücklich, dachte er, wenn ich von
meiner Ohnmacht ewig nicht mehr aufgewacht wäre!
Dann fiel ihm wieder ein, was jetzt seine Mariane
leiden müsse; und dann zerfloß ihm das Herz ganz
in Wehmuth. Dann bethete er nur für sie, und
nicht für sich. Gib mir nur den Tod, o Gott!
sonst kenn ich keine Wohlthat mehr! -- Die häu-
figen Erschütterungen seiner Seele machten endlich
alle Sehnen schlaff, und er sank in einen tiefen



fallen, ſank vorwaͤrts auf den Tiſch, verbarg ſein
Geſicht in beyde Arme, und lag ſo eine halbe Stun-
de, ſeiner nur halb bewuſt da, bis die Aufwaͤrte-
rin wieder kam, ſich nach ihm zu erkundigen. Er
ließ ſich von ihr halb auskleiden, und gieng zu
Bette. Nun, da ſich ſeine Natur wieder etwas
erholt hatte, gieng erſt ſein Seelenleiden an; nun
konnte er erſt ſein Ungluͤck uͤberdenken, und in ſei-
ner ganzen Groͤſſe faſſen. Er ſchauderte zuweilen
zuruͤck, als ob er in einen Abgrund hinabblickte.
Alles war noch Nacht vor ihm. Er konnte nichts
denken, als: ſie iſt verlohren! Die halbe Nacht
quaͤlte er ſich mit dieſem einzigen Gedanken, ohne
all ſein Schrecken halb auszudenken. Oft graͤnzte
ſeine Muthloſigkeit nah an Verzweiflung, und
dann bat er wieder Gott, ihn nicht ganz zu ver-
laſſen! Wie gluͤcklich, dachte er, wenn ich von
meiner Ohnmacht ewig nicht mehr aufgewacht waͤre!
Dann fiel ihm wieder ein, was jetzt ſeine Mariane
leiden muͤſſe; und dann zerfloß ihm das Herz ganz
in Wehmuth. Dann bethete er nur fuͤr ſie, und
nicht fuͤr ſich. Gib mir nur den Tod, o Gott!
ſonſt kenn ich keine Wohlthat mehr! — Die haͤu-
figen Erſchuͤtterungen ſeiner Seele machten endlich
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[920/0500] fallen, ſank vorwaͤrts auf den Tiſch, verbarg ſein Geſicht in beyde Arme, und lag ſo eine halbe Stun- de, ſeiner nur halb bewuſt da, bis die Aufwaͤrte- rin wieder kam, ſich nach ihm zu erkundigen. Er ließ ſich von ihr halb auskleiden, und gieng zu Bette. Nun, da ſich ſeine Natur wieder etwas erholt hatte, gieng erſt ſein Seelenleiden an; nun konnte er erſt ſein Ungluͤck uͤberdenken, und in ſei- ner ganzen Groͤſſe faſſen. Er ſchauderte zuweilen zuruͤck, als ob er in einen Abgrund hinabblickte. Alles war noch Nacht vor ihm. Er konnte nichts denken, als: ſie iſt verlohren! Die halbe Nacht quaͤlte er ſich mit dieſem einzigen Gedanken, ohne all ſein Schrecken halb auszudenken. Oft graͤnzte ſeine Muthloſigkeit nah an Verzweiflung, und dann bat er wieder Gott, ihn nicht ganz zu ver- laſſen! Wie gluͤcklich, dachte er, wenn ich von meiner Ohnmacht ewig nicht mehr aufgewacht waͤre! Dann fiel ihm wieder ein, was jetzt ſeine Mariane leiden muͤſſe; und dann zerfloß ihm das Herz ganz in Wehmuth. Dann bethete er nur fuͤr ſie, und nicht fuͤr ſich. Gib mir nur den Tod, o Gott! ſonſt kenn ich keine Wohlthat mehr! — Die haͤu- figen Erſchuͤtterungen ſeiner Seele machten endlich alle Sehnen ſchlaff, und er ſank in einen tiefen

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 920. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/500>, abgerufen am 29.03.2024.