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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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der menschlichen Gesellschaft wieder; seine Wan-
gen wurden wieder roth, seine Augen wieder helle,
und sein Herz erweitert. Aber die Ungeduld stürmte
doch beständig in ihm, und sein Herz war immer
nur halb da, wo sein Leib war.

Die Zeit, daß er nichts von Rothsels und von
seiner Mariane hörte, ward ihm endlich zu lang.
Er wollte eben an einem Nachmittag weg reiten,
als Rothfels selber kam. Schon sein heitres Aus-
sehn verkündigte gute Nachricht. Munter, mein
lieber Siegwart! sagte er. Es wird alles gut ge-
hen! Der Pater ist nun ganz auf unsrer Seite.
Hier ein Brief von Marianen! Siegwart riß ihn
zitternd auf, und las, so geschwind, daß er nach
dem ersten Durchlesen kaum den Jnhalt des Brie-
fes wuste.

Mein Geliebtester!

Wie erstaunt ich nicht, als mir der Pater einen
Brief von Jhrer Hand gab! Jch ward fast ohn-
mächtig bey dem Lesen. So sind Sie mir so
nah, mein Theurester? Ach, was hab ich ausge-
standen, seit ich von Jhnen getrennt bin! Doch Sie
sollen nicht mit mir leiden. Und nun, mein Theu-
rester, was ist anzufangen? Jch habe das Gelübde
noch nicht abgelegt; aber ich werde hier streng be-



der menſchlichen Geſellſchaft wieder; ſeine Wan-
gen wurden wieder roth, ſeine Augen wieder helle,
und ſein Herz erweitert. Aber die Ungeduld ſtuͤrmte
doch beſtaͤndig in ihm, und ſein Herz war immer
nur halb da, wo ſein Leib war.

Die Zeit, daß er nichts von Rothſels und von
ſeiner Mariane hoͤrte, ward ihm endlich zu lang.
Er wollte eben an einem Nachmittag weg reiten,
als Rothfels ſelber kam. Schon ſein heitres Aus-
ſehn verkuͤndigte gute Nachricht. Munter, mein
lieber Siegwart! ſagte er. Es wird alles gut ge-
hen! Der Pater iſt nun ganz auf unſrer Seite.
Hier ein Brief von Marianen! Siegwart riß ihn
zitternd auf, und las, ſo geſchwind, daß er nach
dem erſten Durchleſen kaum den Jnhalt des Brie-
fes wuſte.

Mein Geliebteſter!

Wie erſtaunt ich nicht, als mir der Pater einen
Brief von Jhrer Hand gab! Jch ward faſt ohn-
maͤchtig bey dem Leſen. So ſind Sie mir ſo
nah, mein Theureſter? Ach, was hab ich ausge-
ſtanden, ſeit ich von Jhnen getrennt bin! Doch Sie
ſollen nicht mit mir leiden. Und nun, mein Theu-
reſter, was iſt anzufangen? Jch habe das Geluͤbde
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[994/0574] der menſchlichen Geſellſchaft wieder; ſeine Wan- gen wurden wieder roth, ſeine Augen wieder helle, und ſein Herz erweitert. Aber die Ungeduld ſtuͤrmte doch beſtaͤndig in ihm, und ſein Herz war immer nur halb da, wo ſein Leib war. Die Zeit, daß er nichts von Rothſels und von ſeiner Mariane hoͤrte, ward ihm endlich zu lang. Er wollte eben an einem Nachmittag weg reiten, als Rothfels ſelber kam. Schon ſein heitres Aus- ſehn verkuͤndigte gute Nachricht. Munter, mein lieber Siegwart! ſagte er. Es wird alles gut ge- hen! Der Pater iſt nun ganz auf unſrer Seite. Hier ein Brief von Marianen! Siegwart riß ihn zitternd auf, und las, ſo geſchwind, daß er nach dem erſten Durchleſen kaum den Jnhalt des Brie- fes wuſte. Mein Geliebteſter! Wie erſtaunt ich nicht, als mir der Pater einen Brief von Jhrer Hand gab! Jch ward faſt ohn- maͤchtig bey dem Leſen. So ſind Sie mir ſo nah, mein Theureſter? Ach, was hab ich ausge- ſtanden, ſeit ich von Jhnen getrennt bin! Doch Sie ſollen nicht mit mir leiden. Und nun, mein Theu- reſter, was iſt anzufangen? Jch habe das Geluͤbde noch nicht abgelegt; aber ich werde hier ſtreng be-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 994. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/574>, abgerufen am 28.03.2024.