Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

durch Nebenwohner, auf die Gesetzgebung.
sund überzubringen jedesmal hundert einschiffen müste? und
gleichwohl ist dieses beynahe der Fall in obigem Verhältniß;
und schwerlich wird sich jemals eine erhebliche Bevölkerung
durch Handarbeiter erhalten lassen, ohne die Hälfte davon un-
ter der Peitsche des Hungers und der Noth sterben zu lassen.

Ein Staat der zehntausend Ackerhöfe und zweymalhundert
tausend Heuerleute hat, kann nicht allen Armen und Kranken
auf gleiche Art aushelfen. Ich kenne ein Kirchspiel, worinn
die Bevölkerung eine ganz neue Kirche, eine Vermehrung von
drey Predigern, von sechs Schulmeistern, acht Hebammen,
zwey Wundärzten, vier Armenhäusern, zweyen Hospi älern,
vier Procuratoren etc. erfordert hat. Wenn ich die Rechnung
von dem Unterhalte dieser Anstalten nachsehe: so werden neun
Zehntel der Kosten von den Hofgesessenen getragen, und diese
durch Mitleid, durch Andacht und um größere Uebel abzu-
wenden, zur guthwilligen Uebernehmung dieser Beschwerden
bewogen. Wahr ist es, sie gewinnen auf einer Seite dabey,
daß sie ihre Ländereyen und Früchte theuer ausbringen kön-
nen; sie haben in vielen Fällen mehr Hülfe, und man kann
zugeben, daß ihnen die Ueberlast bis auf einen gewissen Grad
vergütet wird. Aber nun auch einmal angenommen, daß
diese Volksmasse faul wird, daß die Noth den Damm durch-
bricht, und der ganze Unterhalt der Handarbeiter auf die
Menschenliebe des Kirchspiels fällt, in welche Verlegenheit
wird dann dasselbe nicht gerathen? Die Oberpolicey tritt
wohl zu, wenn es auf eines Jahres Mißwachs ankommt;
auch das zweyte wird noch wohl gut oder übel ausgehalten.
Aber eine muthlose, träge und schamlose Volksmasse, welche
anfängt Betteln und Stehlen für ein ehrliches Nothmittel zu
halten, wird die Landeigenthümer in wenigen Jahren erschöp-
fen, wo diese nicht ihr Herz verhärten, und hunderten zum

noth-

durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung.
ſund uͤberzubringen jedesmal hundert einſchiffen muͤſte? und
gleichwohl iſt dieſes beynahe der Fall in obigem Verhaͤltniß;
und ſchwerlich wird ſich jemals eine erhebliche Bevoͤlkerung
durch Handarbeiter erhalten laſſen, ohne die Haͤlfte davon un-
ter der Peitſche des Hungers und der Noth ſterben zu laſſen.

Ein Staat der zehntauſend Ackerhoͤfe und zweymalhundert
tauſend Heuerleute hat, kann nicht allen Armen und Kranken
auf gleiche Art aushelfen. Ich kenne ein Kirchſpiel, worinn
die Bevoͤlkerung eine ganz neue Kirche, eine Vermehrung von
drey Predigern, von ſechs Schulmeiſtern, acht Hebammen,
zwey Wundaͤrzten, vier Armenhaͤuſern, zweyen Hoſpi aͤlern,
vier Procuratoren ꝛc. erfordert hat. Wenn ich die Rechnung
von dem Unterhalte dieſer Anſtalten nachſehe: ſo werden neun
Zehntel der Koſten von den Hofgeſeſſenen getragen, und dieſe
durch Mitleid, durch Andacht und um groͤßere Uebel abzu-
wenden, zur guthwilligen Uebernehmung dieſer Beſchwerden
bewogen. Wahr iſt es, ſie gewinnen auf einer Seite dabey,
daß ſie ihre Laͤndereyen und Fruͤchte theuer ausbringen koͤn-
nen; ſie haben in vielen Faͤllen mehr Huͤlfe, und man kann
zugeben, daß ihnen die Ueberlaſt bis auf einen gewiſſen Grad
verguͤtet wird. Aber nun auch einmal angenommen, daß
dieſe Volksmaſſe faul wird, daß die Noth den Damm durch-
bricht, und der ganze Unterhalt der Handarbeiter auf die
Menſchenliebe des Kirchſpiels faͤllt, in welche Verlegenheit
wird dann daſſelbe nicht gerathen? Die Oberpolicey tritt
wohl zu, wenn es auf eines Jahres Mißwachs ankommt;
auch das zweyte wird noch wohl gut oder uͤbel ausgehalten.
Aber eine muthloſe, traͤge und ſchamloſe Volksmaſſe, welche
anfaͤngt Betteln und Stehlen fuͤr ein ehrliches Nothmittel zu
halten, wird die Landeigenthuͤmer in wenigen Jahren erſchoͤp-
fen, wo dieſe nicht ihr Herz verhaͤrten, und hunderten zum

noth-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0029" n="11"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">durch Nebenwohner, auf die Ge&#x017F;etzgebung.</hi></fw><lb/>
&#x017F;und u&#x0364;berzubringen jedesmal hundert ein&#x017F;chiffen mu&#x0364;&#x017F;te? und<lb/>
gleichwohl i&#x017F;t die&#x017F;es beynahe der Fall in obigem Verha&#x0364;ltniß;<lb/>
und &#x017F;chwerlich wird &#x017F;ich jemals eine erhebliche Bevo&#x0364;lkerung<lb/>
durch Handarbeiter erhalten la&#x017F;&#x017F;en, ohne die Ha&#x0364;lfte davon un-<lb/>
ter der Peit&#x017F;che des Hungers und der Noth &#x017F;terben zu la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Ein Staat der zehntau&#x017F;end Ackerho&#x0364;fe und zweymalhundert<lb/>
tau&#x017F;end Heuerleute hat, kann nicht allen Armen und Kranken<lb/>
auf gleiche Art aushelfen. Ich kenne ein Kirch&#x017F;piel, worinn<lb/>
die Bevo&#x0364;lkerung eine ganz neue Kirche, eine Vermehrung von<lb/>
drey Predigern, von &#x017F;echs Schulmei&#x017F;tern, acht Hebammen,<lb/>
zwey Wunda&#x0364;rzten, vier Armenha&#x0364;u&#x017F;ern, zweyen Ho&#x017F;pi a&#x0364;lern,<lb/>
vier Procuratoren &#xA75B;c. erfordert hat. Wenn ich die Rechnung<lb/>
von dem Unterhalte die&#x017F;er An&#x017F;talten nach&#x017F;ehe: &#x017F;o werden neun<lb/>
Zehntel der Ko&#x017F;ten von den Hofge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;enen getragen, und die&#x017F;e<lb/>
durch Mitleid, durch Andacht und um gro&#x0364;ßere Uebel abzu-<lb/>
wenden, zur guthwilligen Uebernehmung die&#x017F;er Be&#x017F;chwerden<lb/>
bewogen. Wahr i&#x017F;t es, &#x017F;ie gewinnen auf einer Seite dabey,<lb/>
daß &#x017F;ie ihre La&#x0364;ndereyen und Fru&#x0364;chte theuer ausbringen ko&#x0364;n-<lb/>
nen; &#x017F;ie haben in vielen Fa&#x0364;llen mehr Hu&#x0364;lfe, und man kann<lb/>
zugeben, daß ihnen die Ueberla&#x017F;t bis auf einen gewi&#x017F;&#x017F;en Grad<lb/>
vergu&#x0364;tet wird. Aber nun auch einmal angenommen, daß<lb/>
die&#x017F;e Volksma&#x017F;&#x017F;e faul wird, daß die Noth den Damm durch-<lb/>
bricht, und der ganze Unterhalt der Handarbeiter auf die<lb/>
Men&#x017F;chenliebe des Kirch&#x017F;piels fa&#x0364;llt, in welche Verlegenheit<lb/>
wird dann da&#x017F;&#x017F;elbe nicht gerathen? Die Oberpolicey tritt<lb/>
wohl zu, wenn es auf eines Jahres Mißwachs ankommt;<lb/>
auch das zweyte wird noch wohl gut oder u&#x0364;bel ausgehalten.<lb/>
Aber eine muthlo&#x017F;e, tra&#x0364;ge und &#x017F;chamlo&#x017F;e Volksma&#x017F;&#x017F;e, welche<lb/>
anfa&#x0364;ngt Betteln und Stehlen fu&#x0364;r ein ehrliches Nothmittel zu<lb/>
halten, wird die Landeigenthu&#x0364;mer in wenigen Jahren er&#x017F;cho&#x0364;p-<lb/>
fen, wo die&#x017F;e nicht ihr Herz verha&#x0364;rten, und hunderten zum<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">noth-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0029] durch Nebenwohner, auf die Geſetzgebung. ſund uͤberzubringen jedesmal hundert einſchiffen muͤſte? und gleichwohl iſt dieſes beynahe der Fall in obigem Verhaͤltniß; und ſchwerlich wird ſich jemals eine erhebliche Bevoͤlkerung durch Handarbeiter erhalten laſſen, ohne die Haͤlfte davon un- ter der Peitſche des Hungers und der Noth ſterben zu laſſen. Ein Staat der zehntauſend Ackerhoͤfe und zweymalhundert tauſend Heuerleute hat, kann nicht allen Armen und Kranken auf gleiche Art aushelfen. Ich kenne ein Kirchſpiel, worinn die Bevoͤlkerung eine ganz neue Kirche, eine Vermehrung von drey Predigern, von ſechs Schulmeiſtern, acht Hebammen, zwey Wundaͤrzten, vier Armenhaͤuſern, zweyen Hoſpi aͤlern, vier Procuratoren ꝛc. erfordert hat. Wenn ich die Rechnung von dem Unterhalte dieſer Anſtalten nachſehe: ſo werden neun Zehntel der Koſten von den Hofgeſeſſenen getragen, und dieſe durch Mitleid, durch Andacht und um groͤßere Uebel abzu- wenden, zur guthwilligen Uebernehmung dieſer Beſchwerden bewogen. Wahr iſt es, ſie gewinnen auf einer Seite dabey, daß ſie ihre Laͤndereyen und Fruͤchte theuer ausbringen koͤn- nen; ſie haben in vielen Faͤllen mehr Huͤlfe, und man kann zugeben, daß ihnen die Ueberlaſt bis auf einen gewiſſen Grad verguͤtet wird. Aber nun auch einmal angenommen, daß dieſe Volksmaſſe faul wird, daß die Noth den Damm durch- bricht, und der ganze Unterhalt der Handarbeiter auf die Menſchenliebe des Kirchſpiels faͤllt, in welche Verlegenheit wird dann daſſelbe nicht gerathen? Die Oberpolicey tritt wohl zu, wenn es auf eines Jahres Mißwachs ankommt; auch das zweyte wird noch wohl gut oder uͤbel ausgehalten. Aber eine muthloſe, traͤge und ſchamloſe Volksmaſſe, welche anfaͤngt Betteln und Stehlen fuͤr ein ehrliches Nothmittel zu halten, wird die Landeigenthuͤmer in wenigen Jahren erſchoͤp- fen, wo dieſe nicht ihr Herz verhaͤrten, und hunderten zum noth-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/29
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/29>, abgerufen am 19.04.2024.