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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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Weil demohngeachtet aber die Phantasie sich
an keine bestimmte Folge ihrer Erscheinungen bin-
det, so ist oft eine und dieselbe Gottheit, unter
verschiedenen Gestalten, mehrmal da. Denn die
Begriffe vom Göttlichen und Erhabenen waren
immer;
allein sie hüllten sich von Zeit zu Zeit in
menschliche Geschichten ein, die sich, ihrer Aehn-
lichkeit wegen, ineinander verlohren, und laby-
rintisch verflochten haben; so daß in dem Zauber-
spiegel der dunkeln Vorzeit, fast alle Götterge-
stalten, gleichsam im vergrößernden Wider-
scheine, sich noch einmal darstellen;
welches
die Dichter wohl genutzt haben, deren Einbildungs-
kraft, durch den Reitz des Fabelhaften in dieser
dunkeln Verwebung mehrerer Geschichten, einen
desto freiern Spielraum fand.

Amor.

Ist der älteste unter den Göttern. Er war
vor allen Erzeugungen da, und regte zuerst
das unfruchtbare Chaos an, daß es die Finster-
niß gebahr, woraus der Aether und der Tag her-
vorging.

Der komische Dichter Aristophanes führt diese
alte Dichtung scherzend an, indem er die Vögel
redend einführt, wie sie alle den geheimnißvollen
ursprünglichen Wesen Flügel beilegen, um sie

Weil demohngeachtet aber die Phantaſie ſich
an keine beſtimmte Folge ihrer Erſcheinungen bin-
det, ſo iſt oft eine und dieſelbe Gottheit, unter
verſchiedenen Geſtalten, mehrmal da. Denn die
Begriffe vom Goͤttlichen und Erhabenen waren
immer;
allein ſie huͤllten ſich von Zeit zu Zeit in
menſchliche Geſchichten ein, die ſich, ihrer Aehn-
lichkeit wegen, ineinander verlohren, und laby-
rintiſch verflochten haben; ſo daß in dem Zauber-
ſpiegel der dunkeln Vorzeit, faſt alle Goͤtterge-
ſtalten, gleichſam im vergroͤßernden Wider-
ſcheine, ſich noch einmal darſtellen;
welches
die Dichter wohl genutzt haben, deren Einbildungs-
kraft, durch den Reitz des Fabelhaften in dieſer
dunkeln Verwebung mehrerer Geſchichten, einen
deſto freiern Spielraum fand.

Amor.

Iſt der aͤlteſte unter den Goͤttern. Er war
vor allen Erzeugungen da, und regte zuerſt
das unfruchtbare Chaos an, daß es die Finſter-
niß gebahr, woraus der Aether und der Tag her-
vorging.

Der komiſche Dichter Ariſtophanes fuͤhrt dieſe
alte Dichtung ſcherzend an, indem er die Voͤgel
redend einfuͤhrt, wie ſie alle den geheimnißvollen
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[54/0080] Weil demohngeachtet aber die Phantaſie ſich an keine beſtimmte Folge ihrer Erſcheinungen bin- det, ſo iſt oft eine und dieſelbe Gottheit, unter verſchiedenen Geſtalten, mehrmal da. Denn die Begriffe vom Goͤttlichen und Erhabenen waren immer; allein ſie huͤllten ſich von Zeit zu Zeit in menſchliche Geſchichten ein, die ſich, ihrer Aehn- lichkeit wegen, ineinander verlohren, und laby- rintiſch verflochten haben; ſo daß in dem Zauber- ſpiegel der dunkeln Vorzeit, faſt alle Goͤtterge- ſtalten, gleichſam im vergroͤßernden Wider- ſcheine, ſich noch einmal darſtellen; welches die Dichter wohl genutzt haben, deren Einbildungs- kraft, durch den Reitz des Fabelhaften in dieſer dunkeln Verwebung mehrerer Geſchichten, einen deſto freiern Spielraum fand. Amor. Iſt der aͤlteſte unter den Goͤttern. Er war vor allen Erzeugungen da, und regte zuerſt das unfruchtbare Chaos an, daß es die Finſter- niß gebahr, woraus der Aether und der Tag her- vorging. Der komiſche Dichter Ariſtophanes fuͤhrt dieſe alte Dichtung ſcherzend an, indem er die Voͤgel redend einfuͤhrt, wie ſie alle den geheimnißvollen urſpruͤnglichen Weſen Fluͤgel beilegen, um ſie

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/80>, abgerufen am 19.04.2024.