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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

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zen vertauscht habe -- so war doch die Frau des¬
selben der Neid und die Mißgunst selber, und je¬
der ihrer Blicke vergiftete Reisern den Bissen,
den er in den Mund steckte. Sie lies es sich
zwar am ersten Tage nicht so sehr, wie nachher,
aber doch stark genug merken, daß Reiser nie¬
dergeschlagenen Herzens, ohne selbst recht zu wis¬
sen, worüber, zur Kirche gieng, und die Freude,
die er sich an diesem sehnlich gewünschten Tage
versprochen hatte, nur halb empfand. -- Er
sollte nun hingehn, um sein Glaubensbekenntniß
auf gewisse Weise zn beschwören. --

Dieß dachte er sich, und ihm fiel dabei ein,
daß sein Vater vor einiger Zeit zu Hause erzählt
hatte, wie er wegen seines Dienstes vereidet wor¬
den war, daß er nichts weniger, als gleich¬
gültig
dabei gewesen sey -- und Reiser schien
sich, da er zur Kirche gieng, gegen den Eid, den
er ablegen sollte, gleichgültig zu seyn. -- Aus
dem Unterricht, den er in der Religion bekom¬
men, hatte er sehr hohe Begriffe vom Eide, und
hielt diese Gleichgültigkeit an sich für höchst straf¬
bar. Er zwang sich also nicht gleichgültig, son¬
dern gerührt und ernsthaft zu seyn, bei diesem

zen vertauſcht habe — ſo war doch die Frau deſ¬
ſelben der Neid und die Mißgunſt ſelber, und je¬
der ihrer Blicke vergiftete Reiſern den Biſſen,
den er in den Mund ſteckte. Sie lies es ſich
zwar am erſten Tage nicht ſo ſehr, wie nachher,
aber doch ſtark genug merken, daß Reiſer nie¬
dergeſchlagenen Herzens, ohne ſelbſt recht zu wiſ¬
ſen, woruͤber, zur Kirche gieng, und die Freude,
die er ſich an dieſem ſehnlich gewuͤnſchten Tage
verſprochen hatte, nur halb empfand. — Er
ſollte nun hingehn, um ſein Glaubensbekenntniß
auf gewiſſe Weiſe zn beſchwoͤren. —

Dieß dachte er ſich, und ihm fiel dabei ein,
daß ſein Vater vor einiger Zeit zu Hauſe erzaͤhlt
hatte, wie er wegen ſeines Dienſtes vereidet wor¬
den war, daß er nichts weniger, als gleich¬
guͤltig
dabei geweſen ſey — und Reiſer ſchien
ſich, da er zur Kirche gieng, gegen den Eid, den
er ablegen ſollte, gleichguͤltig zu ſeyn. — Aus
dem Unterricht, den er in der Religion bekom¬
men, hatte er ſehr hohe Begriffe vom Eide, und
hielt dieſe Gleichguͤltigkeit an ſich fuͤr hoͤchſt ſtraf¬
bar. Er zwang ſich alſo nicht gleichguͤltig, ſon¬
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[28/0038] zen vertauſcht habe — ſo war doch die Frau deſ¬ ſelben der Neid und die Mißgunſt ſelber, und je¬ der ihrer Blicke vergiftete Reiſern den Biſſen, den er in den Mund ſteckte. Sie lies es ſich zwar am erſten Tage nicht ſo ſehr, wie nachher, aber doch ſtark genug merken, daß Reiſer nie¬ dergeſchlagenen Herzens, ohne ſelbſt recht zu wiſ¬ ſen, woruͤber, zur Kirche gieng, und die Freude, die er ſich an dieſem ſehnlich gewuͤnſchten Tage verſprochen hatte, nur halb empfand. — Er ſollte nun hingehn, um ſein Glaubensbekenntniß auf gewiſſe Weiſe zn beſchwoͤren. — Dieß dachte er ſich, und ihm fiel dabei ein, daß ſein Vater vor einiger Zeit zu Hauſe erzaͤhlt hatte, wie er wegen ſeines Dienſtes vereidet wor¬ den war, daß er nichts weniger, als gleich¬ guͤltig dabei geweſen ſey — und Reiſer ſchien ſich, da er zur Kirche gieng, gegen den Eid, den er ablegen ſollte, gleichguͤltig zu ſeyn. — Aus dem Unterricht, den er in der Religion bekom¬ men, hatte er ſehr hohe Begriffe vom Eide, und hielt dieſe Gleichguͤltigkeit an ſich fuͤr hoͤchſt ſtraf¬ bar. Er zwang ſich alſo nicht gleichguͤltig, ſon¬ dern geruͤhrt und ernſthaft zu ſeyn, bei dieſem

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/38>, abgerufen am 19.04.2024.