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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786.

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dachte er, so oft er das Buch aus der Tasche zog
-- -- er glaubte sie auf sich vorzüglich passend. --
Denn bei ihm war es, wie er glaubte, theils
Geschick, theils eigne Schuld, daß er so verlassen
in der Welt war; und so wie mit diesem Buche
konnte er sich doch auch selbst mit seinem Freun¬
de nicht unterhalten. --

Fast alle Tage ging er nun bei heiterm Wet¬
ter mit seinem Werther in der Tasche den Spa¬
tziergang auf der Wiese längst dem Flusse, wo
die einzelnen Bäume standen, nach dem kleinen
Gebüsch hin, wo er sich wie zu Hause fand,
und sich unter ein grünes Gesträuch setzte, das
über ihm eine Art von Laube bildete -- weil er
nun denselben Platz immer wieder besuchte, so
wurde er ihm fast so lieb, wie das Plätzchen am
Bache -- und er lebte auf die Weise bei heiterm
Wetter mehr in der offenen Natur, als zu Hause,
indem er zuweilen fast den ganzen Tag so zu¬
brachte, daß er unter dem grünen Gesträuch den
Werther, und nachher am Bache den Virgil
oder Horaz laß. --

Allein die zu oft wiederholte Lektüre des Wer¬
thers brachte seinen Ausdruck sowohl als seine

3r Theil. G

dachte er, ſo oft er das Buch aus der Taſche zog
— — er glaubte ſie auf ſich vorzuͤglich paſſend. —
Denn bei ihm war es, wie er glaubte, theils
Geſchick, theils eigne Schuld, daß er ſo verlaſſen
in der Welt war; und ſo wie mit dieſem Buche
konnte er ſich doch auch ſelbſt mit ſeinem Freun¬
de nicht unterhalten. —

Faſt alle Tage ging er nun bei heiterm Wet¬
ter mit ſeinem Werther in der Taſche den Spa¬
tziergang auf der Wieſe laͤngſt dem Fluſſe, wo
die einzelnen Baͤume ſtanden, nach dem kleinen
Gebuͤſch hin, wo er ſich wie zu Hauſe fand,
und ſich unter ein gruͤnes Geſtraͤuch ſetzte, das
uͤber ihm eine Art von Laube bildete — weil er
nun denſelben Platz immer wieder beſuchte, ſo
wurde er ihm faſt ſo lieb, wie das Plaͤtzchen am
Bache — und er lebte auf die Weiſe bei heiterm
Wetter mehr in der offenen Natur, als zu Hauſe,
indem er zuweilen faſt den ganzen Tag ſo zu¬
brachte, daß er unter dem gruͤnen Geſtraͤuch den
Werther, und nachher am Bache den Virgil
oder Horaz laß. —

Allein die zu oft wiederholte Lektuͤre des Wer¬
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[97/0107] dachte er, ſo oft er das Buch aus der Taſche zog — — er glaubte ſie auf ſich vorzuͤglich paſſend. — Denn bei ihm war es, wie er glaubte, theils Geſchick, theils eigne Schuld, daß er ſo verlaſſen in der Welt war; und ſo wie mit dieſem Buche konnte er ſich doch auch ſelbſt mit ſeinem Freun¬ de nicht unterhalten. — Faſt alle Tage ging er nun bei heiterm Wet¬ ter mit ſeinem Werther in der Taſche den Spa¬ tziergang auf der Wieſe laͤngſt dem Fluſſe, wo die einzelnen Baͤume ſtanden, nach dem kleinen Gebuͤſch hin, wo er ſich wie zu Hauſe fand, und ſich unter ein gruͤnes Geſtraͤuch ſetzte, das uͤber ihm eine Art von Laube bildete — weil er nun denſelben Platz immer wieder beſuchte, ſo wurde er ihm faſt ſo lieb, wie das Plaͤtzchen am Bache — und er lebte auf die Weiſe bei heiterm Wetter mehr in der offenen Natur, als zu Hauſe, indem er zuweilen faſt den ganzen Tag ſo zu¬ brachte, daß er unter dem gruͤnen Geſtraͤuch den Werther, und nachher am Bache den Virgil oder Horaz laß. — Allein die zu oft wiederholte Lektuͤre des Wer¬ thers brachte ſeinen Ausdruck ſowohl als ſeine 3r Theil. G

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/107>, abgerufen am 29.03.2024.