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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786.

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Denkkraft, um vieles zurück, indem ihm die
Wendungen und selbst die Gedanken in diesem
Schriftsteller durch die öftere Wiederhohlung so
geläufig wurden, daß er sie oft für seine eigenen
hielt, und noch verschiedene Jahre nachher bei
den Aufsätzen, die er entwarf, mit Reminiscen¬
zien aus dem Werther zu kämpfen hatte, welches
der Fall bei mehrern jungen Schriftstellern ge¬
wesen ist, die sich seit der Zelt gebildet haben. --
Indes fühlte er sich durch die Lektüre des Wer¬
thers, eben so wie durch den Shakespear, so oft
er ihn laß, über alle seine Verhältnisse erhaben;
das verstärkte Gefühl seines isolirten Daseyns,
indem er sich als ein Wesen dachte, worin Him¬
mel und Erde sich wie in einem Spiegel dar¬
stellt, ließ ihn, stolz auf seine Menschheit, nicht
mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Wesen
seyn, das er sich in den Augen andrer Menschen
schien. -- Was Wunder also, daß seine ganze
Seele nach einer Lektüre hing, die ihm, so oft er
sie kostete, sich selber wiedergab! --

Nun fiel auch in diesen Zeitpunkt gerade die
neue Dichterepoche, wo Bürger, Hölty, Voß, die
Stollberge u. s. w. auftraten, und ihre Gedichte

Denkkraft, um vieles zuruͤck, indem ihm die
Wendungen und ſelbſt die Gedanken in dieſem
Schriftſteller durch die oͤftere Wiederhohlung ſo
gelaͤufig wurden, daß er ſie oft fuͤr ſeine eigenen
hielt, und noch verſchiedene Jahre nachher bei
den Aufſaͤtzen, die er entwarf, mit Reminiſcen¬
zien aus dem Werther zu kaͤmpfen hatte, welches
der Fall bei mehrern jungen Schriftſtellern ge¬
weſen iſt, die ſich ſeit der Zelt gebildet haben. —
Indes fuͤhlte er ſich durch die Lektuͤre des Wer¬
thers, eben ſo wie durch den Shakeſpear, ſo oft
er ihn laß, uͤber alle ſeine Verhaͤltniſſe erhaben;
das verſtaͤrkte Gefuͤhl ſeines iſolirten Daſeyns,
indem er ſich als ein Weſen dachte, worin Him¬
mel und Erde ſich wie in einem Spiegel dar¬
ſtellt, ließ ihn, ſtolz auf ſeine Menſchheit, nicht
mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Weſen
ſeyn, das er ſich in den Augen andrer Menſchen
ſchien. — Was Wunder alſo, daß ſeine ganze
Seele nach einer Lektuͤre hing, die ihm, ſo oft er
ſie koſtete, ſich ſelber wiedergab! —

Nun fiel auch in dieſen Zeitpunkt gerade die
neue Dichterepoche, wo Buͤrger, Hoͤlty, Voß, die
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[98/0108] Denkkraft, um vieles zuruͤck, indem ihm die Wendungen und ſelbſt die Gedanken in dieſem Schriftſteller durch die oͤftere Wiederhohlung ſo gelaͤufig wurden, daß er ſie oft fuͤr ſeine eigenen hielt, und noch verſchiedene Jahre nachher bei den Aufſaͤtzen, die er entwarf, mit Reminiſcen¬ zien aus dem Werther zu kaͤmpfen hatte, welches der Fall bei mehrern jungen Schriftſtellern ge¬ weſen iſt, die ſich ſeit der Zelt gebildet haben. — Indes fuͤhlte er ſich durch die Lektuͤre des Wer¬ thers, eben ſo wie durch den Shakeſpear, ſo oft er ihn laß, uͤber alle ſeine Verhaͤltniſſe erhaben; das verſtaͤrkte Gefuͤhl ſeines iſolirten Daſeyns, indem er ſich als ein Weſen dachte, worin Him¬ mel und Erde ſich wie in einem Spiegel dar¬ ſtellt, ließ ihn, ſtolz auf ſeine Menſchheit, nicht mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Weſen ſeyn, das er ſich in den Augen andrer Menſchen ſchien. — Was Wunder alſo, daß ſeine ganze Seele nach einer Lektuͤre hing, die ihm, ſo oft er ſie koſtete, ſich ſelber wiedergab! — Nun fiel auch in dieſen Zeitpunkt gerade die neue Dichterepoche, wo Buͤrger, Hoͤlty, Voß, die Stollberge u. ſ. w. auftraten, und ihre Gedichte

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/108>, abgerufen am 28.03.2024.