Als Anacharsis der Skythe die sämmtlichen Stämme der Griechen besucht, und unter ihnen gelebt hatte, soll er geurtheilt haben, "daß es ihnen allen an Muße und Ruhe fehle für die gesammte Weisheit, mit Ausnahme der Lakedämonier. Denn mit diesen al- lein könne man besonnener und verständiger Rede pfle- gen" 1. Es war ihm ohne Zweifel das Leben der übrigen Hellenen als ein unruhiges, bewegtes Treiben, als ein fortwährendes Streben ohne Ziel vorgekom- men; in Sparta allein hatte er innre Ruhe und Sammlung des Geistes gefunden. Abgesehn von dem Grunde dieser Erscheinung in der ursprünglichen Ge- müthsverfassung der Dorier, merken wir nur hier auf die äußere begünstigende Lage, nämlich auf die völlige Muße und Arbeitlosigkeit der Dorier von Sparta 2. Neuere Schriftsteller haben sich eine solche oft als un- ausstehliche Langweile gedacht, wie denn unser Ge- müth von Jugend auf durch Arbeit gebrochen und bis in das späte Alter an diesem Joche schleppend von ei-
1 Herod. 4, 77.
2 aphthonia okholes Plut. Lyk. 24. Inst. Lac. p. 255.
9.
1.
Als Anacharſis der Skythe die ſaͤmmtlichen Staͤmme der Griechen beſucht, und unter ihnen gelebt hatte, ſoll er geurtheilt haben, „daß es ihnen allen an Muße und Ruhe fehle fuͤr die geſammte Weisheit, mit Ausnahme der Lakedaͤmonier. Denn mit dieſen al- lein koͤnne man beſonnener und verſtaͤndiger Rede pfle- gen“ 1. Es war ihm ohne Zweifel das Leben der uͤbrigen Hellenen als ein unruhiges, bewegtes Treiben, als ein fortwaͤhrendes Streben ohne Ziel vorgekom- men; in Sparta allein hatte er innre Ruhe und Sammlung des Geiſtes gefunden. Abgeſehn von dem Grunde dieſer Erſcheinung in der urſpruͤnglichen Ge- muͤthsverfaſſung der Dorier, merken wir nur hier auf die aͤußere beguͤnſtigende Lage, naͤmlich auf die voͤllige Muße und Arbeitloſigkeit der Dorier von Sparta 2. Neuere Schriftſteller haben ſich eine ſolche oft als un- ausſtehliche Langweile gedacht, wie denn unſer Ge- muͤth von Jugend auf durch Arbeit gebrochen und bis in das ſpaͤte Alter an dieſem Joche ſchleppend von ei-
1 Herod. 4, 77.
2 ἀφϑονία οχολῆς Plut. Lyk. 24. Inst. Lac. p. 255.
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9.
1.
Als Anacharſis der Skythe die ſaͤmmtlichen
Staͤmme der Griechen beſucht, und unter ihnen gelebt
hatte, ſoll er geurtheilt haben, „daß es ihnen allen
an Muße und Ruhe fehle fuͤr die geſammte Weisheit,
mit Ausnahme der Lakedaͤmonier. Denn mit dieſen al-
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gen“ 1. Es war ihm ohne Zweifel das Leben der
uͤbrigen Hellenen als ein unruhiges, bewegtes Treiben,
als ein fortwaͤhrendes Streben ohne Ziel vorgekom-
men; in Sparta allein hatte er innre Ruhe und
Sammlung des Geiſtes gefunden. Abgeſehn von dem
Grunde dieſer Erſcheinung in der urſpruͤnglichen Ge-
muͤthsverfaſſung der Dorier, merken wir nur hier auf
die aͤußere beguͤnſtigende Lage, naͤmlich auf die voͤllige
Muße und Arbeitloſigkeit der Dorier von Sparta 2.
Neuere Schriftſteller haben ſich eine ſolche oft als un-
ausſtehliche Langweile gedacht, wie denn unſer Ge-
muͤth von Jugend auf durch Arbeit gebrochen und bis
in das ſpaͤte Alter an dieſem Joche ſchleppend von ei-
1 Herod. 4, 77.
2 ἀφϑονία οχολῆς Plut. Lyk. 24.
Inst. Lac. p. 255.
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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/403>, abgerufen am 28.03.2024.
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