Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

kann, wendete sich die christliche Religion zuerst,
und am liebsten, an die Griechen. Den Be-
griff: auserwähltes Volk Gottes, worin
die Störrigkeit der Juden ihren Grund hat, kam
Christus zu zerstören; den erhabenen Geist der
Mosaischen Gesetzgebung wollte er, nun, da
die ungeheuren Schranken, die Moses um sein
Volk her gezogen hatte, nicht weiter nöthig
waren, universalisiren und ergänzen. --

Schranken dieser Art kannte das Griechische
Volk nicht: eine sittliche Grenze pflegte es wohl
um das alte Gebiet Griechischer Wirksamkeit
her zu ziehen, und, was außerhalb dieser Grenze
lag, geringer zu achten, als das Griechische,
woher der Nahme Barbar allmählich die schmä-
hende Bedeutung erhielt; eine politische Grenze
aber gab es für die Griechen nie: frei breiteten
sich die beiden Flügel ihres Reiches nach Osten
und nach Westen aus. Während Israel, im ein-
seitigen Umgange mit sich selbst, die alte von dem
großen Heerführer eingedrückte Form eigensinnig
behauptete und in Kriegen erhärtete; schwärmte
der Geist der Griechen an allen Küsten des mit-
telländischen, Adriatischen und Aegäischen Mee-
res umher, und so erwarben sie im Handel, wie
im Kriege, durch wissenschaftlichen Umgang und
durch Reisen jene reiche bewegliche Ansicht des

kann, wendete ſich die chriſtliche Religion zuerſt,
und am liebſten, an die Griechen. Den Be-
griff: auserwaͤhltes Volk Gottes, worin
die Stoͤrrigkeit der Juden ihren Grund hat, kam
Chriſtus zu zerſtoͤren; den erhabenen Geiſt der
Moſaiſchen Geſetzgebung wollte er, nun, da
die ungeheuren Schranken, die Moſes um ſein
Volk her gezogen hatte, nicht weiter noͤthig
waren, univerſaliſiren und ergaͤnzen. —

Schranken dieſer Art kannte das Griechiſche
Volk nicht: eine ſittliche Grenze pflegte es wohl
um das alte Gebiet Griechiſcher Wirkſamkeit
her zu ziehen, und, was außerhalb dieſer Grenze
lag, geringer zu achten, als das Griechiſche,
woher der Nahme Barbar allmaͤhlich die ſchmaͤ-
hende Bedeutung erhielt; eine politiſche Grenze
aber gab es fuͤr die Griechen nie: frei breiteten
ſich die beiden Fluͤgel ihres Reiches nach Oſten
und nach Weſten aus. Waͤhrend Iſrael, im ein-
ſeitigen Umgange mit ſich ſelbſt, die alte von dem
großen Heerfuͤhrer eingedruͤckte Form eigenſinnig
behauptete und in Kriegen erhaͤrtete; ſchwaͤrmte
der Geiſt der Griechen an allen Kuͤſten des mit-
tellaͤndiſchen, Adriatiſchen und Aegaͤiſchen Mee-
res umher, und ſo erwarben ſie im Handel, wie
im Kriege, durch wiſſenſchaftlichen Umgang und
durch Reiſen jene reiche bewegliche Anſicht des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0047" n="39"/>
kann, wendete &#x017F;ich die chri&#x017F;tliche Religion zuer&#x017F;t,<lb/>
und am lieb&#x017F;ten, an die Griechen. Den Be-<lb/>
griff: <hi rendition="#g">auserwa&#x0364;hltes Volk Gottes</hi>, worin<lb/>
die Sto&#x0364;rrigkeit der Juden ihren Grund hat, kam<lb/>
Chri&#x017F;tus zu zer&#x017F;to&#x0364;ren; den erhabenen Gei&#x017F;t der<lb/>
Mo&#x017F;ai&#x017F;chen Ge&#x017F;etzgebung wollte er, nun, da<lb/>
die ungeheuren Schranken, die Mo&#x017F;es um &#x017F;ein<lb/>
Volk her gezogen hatte, nicht weiter no&#x0364;thig<lb/>
waren, univer&#x017F;ali&#x017F;iren und erga&#x0364;nzen. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Schranken die&#x017F;er Art kannte das Griechi&#x017F;che<lb/>
Volk nicht: eine &#x017F;ittliche Grenze pflegte es wohl<lb/>
um das alte Gebiet Griechi&#x017F;cher Wirk&#x017F;amkeit<lb/>
her zu ziehen, und, was außerhalb die&#x017F;er Grenze<lb/>
lag, geringer zu achten, als das Griechi&#x017F;che,<lb/>
woher der Nahme <hi rendition="#g">Barbar</hi> allma&#x0364;hlich die &#x017F;chma&#x0364;-<lb/>
hende Bedeutung erhielt; eine politi&#x017F;che Grenze<lb/>
aber gab es fu&#x0364;r die Griechen nie: frei breiteten<lb/>
&#x017F;ich die beiden Flu&#x0364;gel ihres Reiches nach O&#x017F;ten<lb/>
und nach We&#x017F;ten aus. Wa&#x0364;hrend I&#x017F;rael, im ein-<lb/>
&#x017F;eitigen Umgange mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, die alte von dem<lb/>
großen Heerfu&#x0364;hrer eingedru&#x0364;ckte Form eigen&#x017F;innig<lb/>
behauptete und in Kriegen erha&#x0364;rtete; &#x017F;chwa&#x0364;rmte<lb/>
der Gei&#x017F;t der Griechen an allen Ku&#x0364;&#x017F;ten des mit-<lb/>
tella&#x0364;ndi&#x017F;chen, Adriati&#x017F;chen und Aega&#x0364;i&#x017F;chen Mee-<lb/>
res umher, und &#x017F;o erwarben &#x017F;ie im Handel, wie<lb/>
im Kriege, durch wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Umgang und<lb/>
durch Rei&#x017F;en jene reiche bewegliche An&#x017F;icht des<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0047] kann, wendete ſich die chriſtliche Religion zuerſt, und am liebſten, an die Griechen. Den Be- griff: auserwaͤhltes Volk Gottes, worin die Stoͤrrigkeit der Juden ihren Grund hat, kam Chriſtus zu zerſtoͤren; den erhabenen Geiſt der Moſaiſchen Geſetzgebung wollte er, nun, da die ungeheuren Schranken, die Moſes um ſein Volk her gezogen hatte, nicht weiter noͤthig waren, univerſaliſiren und ergaͤnzen. — Schranken dieſer Art kannte das Griechiſche Volk nicht: eine ſittliche Grenze pflegte es wohl um das alte Gebiet Griechiſcher Wirkſamkeit her zu ziehen, und, was außerhalb dieſer Grenze lag, geringer zu achten, als das Griechiſche, woher der Nahme Barbar allmaͤhlich die ſchmaͤ- hende Bedeutung erhielt; eine politiſche Grenze aber gab es fuͤr die Griechen nie: frei breiteten ſich die beiden Fluͤgel ihres Reiches nach Oſten und nach Weſten aus. Waͤhrend Iſrael, im ein- ſeitigen Umgange mit ſich ſelbſt, die alte von dem großen Heerfuͤhrer eingedruͤckte Form eigenſinnig behauptete und in Kriegen erhaͤrtete; ſchwaͤrmte der Geiſt der Griechen an allen Kuͤſten des mit- tellaͤndiſchen, Adriatiſchen und Aegaͤiſchen Mee- res umher, und ſo erwarben ſie im Handel, wie im Kriege, durch wiſſenſchaftlichen Umgang und durch Reiſen jene reiche bewegliche Anſicht des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/47
Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/47>, abgerufen am 25.04.2024.