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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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§ 11.
Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung.

Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen
Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft
sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb
wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf-
stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen.

Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar-
gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht
aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung
und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den
Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss
aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge-
meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des
Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der
Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge-
meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän-
kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den
isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un-
endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit
verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die
Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt;
für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge-
meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit
seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das

§ 11.
Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung.

Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen
Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft
sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb
wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf-
stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen.

Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar-
gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht
aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung
und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den
Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss
aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge-
meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des
Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der
Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge-
meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän-
kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den
isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un-
endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit
verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die
Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt;
für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge-
meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit
seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das

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[[83]/0099] § 11. Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung. Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf- stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen. Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar- gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge- meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge- meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän- kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un- endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt; für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge- meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. [83]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/99>, abgerufen am 29.03.2024.