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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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Unterschiede zwischen den Aeusserungen des genialen Individuums und der dichterischen Volksseele?

Aber diese ganze Gegenüberstellung ist eine unberechtigte und führt in die Irre. Dieses lehrt folgende Erwägung. Es giebt in der modernen Aesthetik keinen gefährlicheren Gegensatz als den von Volksdichtung und Individualdichtung oder, wie man zu sagen pflegt, Kunstdichtung. Es ist dies der Rückschlag oder wenn man will der Aberglaube, den die folgenreichste Entdeckung der historisch-philologischen Wissenschaft nach sich zog, die Entdeckung und Würdigung der Volksseele. Mit ihr nämlich war erst der Boden geschaffen für eine annähernd wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte, die bis dahin und in vielen Formen bis jetzt eine einfache Stoffsammlung war, mit der Aussicht, dass dieser Stoff sich ins Unendliche häufe, und es nie gelingen werde Gesetz und Regel dieses ewig neuen Wellenschlags zu entdecken. Jetzt begriff man zum ersten Male die längst empfundene Macht grösserer Individualitäten und Willenserscheinungen, als es das verschwindende Minimum des einzelnen Menschen ist; jetzt erkannte man, wie alles wahrhaft Grosse und Weithintreffende im Reiche des Willens seine am tiefsten eingesenkte Wurzel nicht in der so kurzlebigen und unkräftigen Einzelgestalt des Willens haben könne; jetzt endlich fühlte man die grossen Masseninstinkte, die unbewussten Völkertriebe heraus als die eigentlichen Träger und Hebel der sogenannten Weltgeschichte. Aber die neu aufleuchtende Flamme warf auch ihren Schatten: und dieser ist eben jener vorhin bezeichnete Aberglaube, der die Volksdichtung der Individualdichtung entgegenstellt und dabei in bedenklichster Art den unklar gefassten Begriff der Volksseele zu dem des Volksgeistes erweitert. Durch den Missbrauch eines allerdings verführerischen Schlusses nach der Analogie war man dazu gekommen, auch auf das Reich des Intellektes und der künstlerischen Ideen jenen Satz von der grösseren Individualität anzuwenden, der seinen Werth nur im Reiche des Willens hat. Niemals ist der so unschönen und unphilosophischen Masse etwas Schmeichelhafteres angethan worden als

Unterschiede zwischen den Aeusserungen des genialen Individuums und der dichterischen Volksseele?

Aber diese ganze Gegenüberstellung ist eine unberechtigte und führt in die Irre. Dieses lehrt folgende Erwägung. Es giebt in der modernen Aesthetik keinen gefährlicheren Gegensatz als den von Volksdichtung und Individualdichtung oder, wie man zu sagen pflegt, Kunstdichtung. Es ist dies der Rückschlag oder wenn man will der Aberglaube, den die folgenreichste Entdeckung der historisch-philologischen Wissenschaft nach sich zog, die Entdeckung und Würdigung der Volksseele. Mit ihr nämlich war erst der Boden geschaffen für eine annähernd wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte, die bis dahin und in vielen Formen bis jetzt eine einfache Stoffsammlung war, mit der Aussicht, dass dieser Stoff sich ins Unendliche häufe, und es nie gelingen werde Gesetz und Regel dieses ewig neuen Wellenschlags zu entdecken. Jetzt begriff man zum ersten Male die längst empfundene Macht grösserer Individualitäten und Willenserscheinungen, als es das verschwindende Minimum des einzelnen Menschen ist; jetzt erkannte man, wie alles wahrhaft Grosse und Weithintreffende im Reiche des Willens seine am tiefsten eingesenkte Wurzel nicht in der so kurzlebigen und unkräftigen Einzelgestalt des Willens haben könne; jetzt endlich fühlte man die grossen Masseninstinkte, die unbewussten Völkertriebe heraus als die eigentlichen Träger und Hebel der sogenannten Weltgeschichte. Aber die neu aufleuchtende Flamme warf auch ihren Schatten: und dieser ist eben jener vorhin bezeichnete Aberglaube, der die Volksdichtung der Individualdichtung entgegenstellt und dabei in bedenklichster Art den unklar gefassten Begriff der Volksseele zu dem des Volksgeistes erweitert. Durch den Missbrauch eines allerdings verführerischen Schlusses nach der Analogie war man dazu gekommen, auch auf das Reich des Intellektes und der künstlerischen Ideen jenen Satz von der grösseren Individualität anzuwenden, der seinen Werth nur im Reiche des Willens hat. Niemals ist der so unschönen und unphilosophischen Masse etwas Schmeichelhafteres angethan worden als

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[16/0014] Unterschiede zwischen den Aeusserungen des genialen Individuums und der dichterischen Volksseele? Aber diese ganze Gegenüberstellung ist eine unberechtigte und führt in die Irre. Dieses lehrt folgende Erwägung. Es giebt in der modernen Aesthetik keinen gefährlicheren Gegensatz als den von Volksdichtung und Individualdichtung oder, wie man zu sagen pflegt, Kunstdichtung. Es ist dies der Rückschlag oder wenn man will der Aberglaube, den die folgenreichste Entdeckung der historisch-philologischen Wissenschaft nach sich zog, die Entdeckung und Würdigung der Volksseele. Mit ihr nämlich war erst der Boden geschaffen für eine annähernd wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte, die bis dahin und in vielen Formen bis jetzt eine einfache Stoffsammlung war, mit der Aussicht, dass dieser Stoff sich ins Unendliche häufe, und es nie gelingen werde Gesetz und Regel dieses ewig neuen Wellenschlags zu entdecken. Jetzt begriff man zum ersten Male die längst empfundene Macht grösserer Individualitäten und Willenserscheinungen, als es das verschwindende Minimum des einzelnen Menschen ist; jetzt erkannte man, wie alles wahrhaft Grosse und Weithintreffende im Reiche des Willens seine am tiefsten eingesenkte Wurzel nicht in der so kurzlebigen und unkräftigen Einzelgestalt des Willens haben könne; jetzt endlich fühlte man die grossen Masseninstinkte, die unbewussten Völkertriebe heraus als die eigentlichen Träger und Hebel der sogenannten Weltgeschichte. Aber die neu aufleuchtende Flamme warf auch ihren Schatten: und dieser ist eben jener vorhin bezeichnete Aberglaube, der die Volksdichtung der Individualdichtung entgegenstellt und dabei in bedenklichster Art den unklar gefassten Begriff der Volksseele zu dem des Volksgeistes erweitert. Durch den Missbrauch eines allerdings verführerischen Schlusses nach der Analogie war man dazu gekommen, auch auf das Reich des Intellektes und der künstlerischen Ideen jenen Satz von der grösseren Individualität anzuwenden, der seinen Werth nur im Reiche des Willens hat. Niemals ist der so unschönen und unphilosophischen Masse etwas Schmeichelhafteres angethan worden als

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/14>, abgerufen am 28.03.2024.