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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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wo man missbräuchlich vom Umsturz der Heiligthümer redet, nur eben neuere und würdigere Altäre gebaut worden sind. Prüfen wir also von diesem Standpunkte aus die sogenannte homerische Frage, dieselbe, von deren wichtigstem Problem Schiller geredet hat als von einer gelehrten Barbarei.

Mit diesem wichtigsten Problem ist gemeint die Frage nach der Persönlichkeit Homers.

Man hört jetzt allerwärts die nachdrückliche Behauptung, dass die Frage nach der Persönlichkeit Homers eigentlich nicht mehr zeitgemäss sei und von der wirklichen "homerischen Frage" ganz abseits liege. Nun darf man freilich zugeben, dass für einen gegebenen Zeitraum, also z. B. für unsre philologische Gegenwart das Centrum der genannten Frage sich von dem Persönlichkeitsprobleme etwas entfernen könne: macht man doch gerade in der Gegenwart das sorgfältigste Experiment, die homerischen Dichtungen ohne eigentliche Beihülfe der Persönlichkeit, aber als das Werk vieler Personen zu construiren. Wenn man aber das Centrum einer wissenschaftlichen Frage mit Recht dort findet, von wo sich der volle Strom neuer Anschauungen ergossen hat, also an dem Punkte, an dem die wissenschaftliche Einzelforschung sich mit dem Gesammtleben der Wissenschaft und der Cultur berührt, wenn man also nach einer kulturhistorischen Werthbestimmung das Centrum bezeichnet, so muss man auch in dem Bereiche homerischer Forschungen bei der Persönlichkeitsfrage stehen bleiben, als dem eigentlich fruchtbringenden Kern eines ganzen Fragencyklus. An Homer nämlich hat die moderne Welt einen grossen historischen Gesichtspunkt, ich will nicht sagen gelernt, aber zuerst erprobt; und ohne schon hier meine Meinung darüber kund zu geben, ob diese Probe gerade an diesem Objekte mit Glück gemacht ist oder gemacht werden konnte, war doch damit das erste Beispiel für die Anwendung jenes fruchtbaren Gesichtspunktes gegeben. Hier hat man gelernt, in den scheinbar festen Gestalten älteren Völkerlebens verdichtete Vorstellungen zu erkennen, hier hat man zum ersten Male die wunderbare Fähigkeit

wo man missbräuchlich vom Umsturz der Heiligthümer redet, nur eben neuere und würdigere Altäre gebaut worden sind. Prüfen wir also von diesem Standpunkte aus die sogenannte homerische Frage, dieselbe, von deren wichtigstem Problem Schiller geredet hat als von einer gelehrten Barbarei.

Mit diesem wichtigsten Problem ist gemeint die Frage nach der Persönlichkeit Homers.

Man hört jetzt allerwärts die nachdrückliche Behauptung, dass die Frage nach der Persönlichkeit Homers eigentlich nicht mehr zeitgemäss sei und von der wirklichen «homerischen Frage» ganz abseits liege. Nun darf man freilich zugeben, dass für einen gegebenen Zeitraum, also z. B. für unsre philologische Gegenwart das Centrum der genannten Frage sich von dem Persönlichkeitsprobleme etwas entfernen könne: macht man doch gerade in der Gegenwart das sorgfältigste Experiment, die homerischen Dichtungen ohne eigentliche Beihülfe der Persönlichkeit, aber als das Werk vieler Personen zu construiren. Wenn man aber das Centrum einer wissenschaftlichen Frage mit Recht dort findet, von wo sich der volle Strom neuer Anschauungen ergossen hat, also an dem Punkte, an dem die wissenschaftliche Einzelforschung sich mit dem Gesammtleben der Wissenschaft und der Cultur berührt, wenn man also nach einer kulturhistorischen Werthbestimmung das Centrum bezeichnet, so muss man auch in dem Bereiche homerischer Forschungen bei der Persönlichkeitsfrage stehen bleiben, als dem eigentlich fruchtbringenden Kern eines ganzen Fragencyklus. An Homer nämlich hat die moderne Welt einen grossen historischen Gesichtspunkt, ich will nicht sagen gelernt, aber zuerst erprobt; und ohne schon hier meine Meinung darüber kund zu geben, ob diese Probe gerade an diesem Objekte mit Glück gemacht ist oder gemacht werden konnte, war doch damit das erste Beispiel für die Anwendung jenes fruchtbaren Gesichtspunktes gegeben. Hier hat man gelernt, in den scheinbar festen Gestalten älteren Völkerlebens verdichtete Vorstellungen zu erkennen, hier hat man zum ersten Male die wunderbare Fähigkeit

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[10/0008] wo man missbräuchlich vom Umsturz der Heiligthümer redet, nur eben neuere und würdigere Altäre gebaut worden sind. Prüfen wir also von diesem Standpunkte aus die sogenannte homerische Frage, dieselbe, von deren wichtigstem Problem Schiller geredet hat als von einer gelehrten Barbarei. Mit diesem wichtigsten Problem ist gemeint die Frage nach der Persönlichkeit Homers. Man hört jetzt allerwärts die nachdrückliche Behauptung, dass die Frage nach der Persönlichkeit Homers eigentlich nicht mehr zeitgemäss sei und von der wirklichen «homerischen Frage» ganz abseits liege. Nun darf man freilich zugeben, dass für einen gegebenen Zeitraum, also z. B. für unsre philologische Gegenwart das Centrum der genannten Frage sich von dem Persönlichkeitsprobleme etwas entfernen könne: macht man doch gerade in der Gegenwart das sorgfältigste Experiment, die homerischen Dichtungen ohne eigentliche Beihülfe der Persönlichkeit, aber als das Werk vieler Personen zu construiren. Wenn man aber das Centrum einer wissenschaftlichen Frage mit Recht dort findet, von wo sich der volle Strom neuer Anschauungen ergossen hat, also an dem Punkte, an dem die wissenschaftliche Einzelforschung sich mit dem Gesammtleben der Wissenschaft und der Cultur berührt, wenn man also nach einer kulturhistorischen Werthbestimmung das Centrum bezeichnet, so muss man auch in dem Bereiche homerischer Forschungen bei der Persönlichkeitsfrage stehen bleiben, als dem eigentlich fruchtbringenden Kern eines ganzen Fragencyklus. An Homer nämlich hat die moderne Welt einen grossen historischen Gesichtspunkt, ich will nicht sagen gelernt, aber zuerst erprobt; und ohne schon hier meine Meinung darüber kund zu geben, ob diese Probe gerade an diesem Objekte mit Glück gemacht ist oder gemacht werden konnte, war doch damit das erste Beispiel für die Anwendung jenes fruchtbaren Gesichtspunktes gegeben. Hier hat man gelernt, in den scheinbar festen Gestalten älteren Völkerlebens verdichtete Vorstellungen zu erkennen, hier hat man zum ersten Male die wunderbare Fähigkeit

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/8>, abgerufen am 19.04.2024.