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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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21.

Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurück¬
gleitend, die dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass
nur von den Griechen gelernt werden kann, was ein solches
wundergleiches plötzliches Aufwachen der Tragödie für den
innersten Lebensgrund eines Volkes zu bedeuten hat. Es ist
das Volk der tragischen Mysterien, das die Perserschlachten
schlägt: und wiederum braucht das Volk, das jene Kriege
geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank.
Wer möchte gerade bei diesem Volke, nachdem es durch
mehrere Generationen von den stärksten Zuckungen des
dionysischen Dämon bis in's Innerste erregt wurde, noch
einen so gleichmässig kräftigen Erguss des einfachsten poli¬
tischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte, der ur¬
sprünglichen männlichen Kampflust vermuthen dürfen? Ist
es doch bei jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer
Erregungen immer zu spüren, wie die dionysische Lösung
von den Fesseln des Individuums sich am allerersten in einer
bis zur Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit gesteigerten Beein¬
trächtigung der politischen Instincte fühlbar macht, so gewiss
andererseits der staatenbildende Apollo auch der Genius des
principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn nicht
ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können.
Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg,
der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt
mit seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden, jener
seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum,
Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum eine Philo¬
sophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der
Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden.
Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten

21.

Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurück¬
gleitend, die dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass
nur von den Griechen gelernt werden kann, was ein solches
wundergleiches plötzliches Aufwachen der Tragödie für den
innersten Lebensgrund eines Volkes zu bedeuten hat. Es ist
das Volk der tragischen Mysterien, das die Perserschlachten
schlägt: und wiederum braucht das Volk, das jene Kriege
geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank.
Wer möchte gerade bei diesem Volke, nachdem es durch
mehrere Generationen von den stärksten Zuckungen des
dionysischen Dämon bis in's Innerste erregt wurde, noch
einen so gleichmässig kräftigen Erguss des einfachsten poli¬
tischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte, der ur¬
sprünglichen männlichen Kampflust vermuthen dürfen? Ist
es doch bei jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer
Erregungen immer zu spüren, wie die dionysische Lösung
von den Fesseln des Individuums sich am allerersten in einer
bis zur Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit gesteigerten Beein¬
trächtigung der politischen Instincte fühlbar macht, so gewiss
andererseits der staatenbildende Apollo auch der Genius des
principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn nicht
ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können.
Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg,
der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt
mit seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden, jener
seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum,
Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum eine Philo¬
sophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der
Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden.
Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten

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[—118—/0131] 21. Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurück¬ gleitend, die dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur von den Griechen gelernt werden kann, was ein solches wundergleiches plötzliches Aufwachen der Tragödie für den innersten Lebensgrund eines Volkes zu bedeuten hat. Es ist das Volk der tragischen Mysterien, das die Perserschlachten schlägt: und wiederum braucht das Volk, das jene Kriege geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank. Wer möchte gerade bei diesem Volke, nachdem es durch mehrere Generationen von den stärksten Zuckungen des dionysischen Dämon bis in's Innerste erregt wurde, noch einen so gleichmässig kräftigen Erguss des einfachsten poli¬ tischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte, der ur¬ sprünglichen männlichen Kampflust vermuthen dürfen? Ist es doch bei jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer Erregungen immer zu spüren, wie die dionysische Lösung von den Fesseln des Individuums sich am allerersten in einer bis zur Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit gesteigerten Beein¬ trächtigung der politischen Instincte fühlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildende Apollo auch der Genius des principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn nicht ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können. Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum eine Philo¬ sophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden. Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —118—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/131>, abgerufen am 29.03.2024.