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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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wohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es
mit seiner gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des
Schleiers, zur Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes
aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuch¬
tete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer
zu dringen.

Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen
und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird
sich schwerlich vorstellen, wie bestimmt und klar diese bei¬
den Processe bei der Betrachtung des tragischen Mythus
nebeneinander bestehen und nebeneinander empfunden wer¬
den: während die wahrhaft ästhetischen Zuschauer mir be¬
stätigen werden, dass unter den eigentümlichen Wirkungen
der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei.
Man übertrage sich nun dieses Phänomen des ästhetischen
Zuschauers in einen analogen Process im tragischen Künstler,
und man wird die Genesis des tragischen Mythus verstanden
haben. Er theilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle
Lust am Schein und am Schauen, und zugleich verneint er
diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der
Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des tra¬
gischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der
Verherrlichung des kämpfenden Helden: woher stammt aber
jener an sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schick¬
sale des Helden, die schmerzlichsten Ueberwindungen, die
qualvollsten Gegensätze der Motive, kurz die Exemplification
jener Weisheit des Silen, oder, ästhetisch ausgedrückt, das
Hässliche und Disharmonische, in so zahllosen Formen, mit
solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt wird und gerade
in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines Volkes, wenn
nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt wird?

Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht,
würde am wenigsten die Entstehung einer Kunstform er¬

wohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es
mit seiner gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des
Schleiers, zur Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes
aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuch¬
tete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer
zu dringen.

Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen
und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird
sich schwerlich vorstellen, wie bestimmt und klar diese bei¬
den Processe bei der Betrachtung des tragischen Mythus
nebeneinander bestehen und nebeneinander empfunden wer¬
den: während die wahrhaft ästhetischen Zuschauer mir be¬
stätigen werden, dass unter den eigentümlichen Wirkungen
der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei.
Man übertrage sich nun dieses Phänomen des ästhetischen
Zuschauers in einen analogen Process im tragischen Künstler,
und man wird die Genesis des tragischen Mythus verstanden
haben. Er theilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle
Lust am Schein und am Schauen, und zugleich verneint er
diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der
Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des tra¬
gischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der
Verherrlichung des kämpfenden Helden: woher stammt aber
jener an sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schick¬
sale des Helden, die schmerzlichsten Ueberwindungen, die
qualvollsten Gegensätze der Motive, kurz die Exemplification
jener Weisheit des Silen, oder, ästhetisch ausgedrückt, das
Hässliche und Disharmonische, in so zahllosen Formen, mit
solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt wird und gerade
in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines Volkes, wenn
nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt wird?

Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht,
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[—138—/0151] wohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es mit seiner gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuch¬ tete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen. Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich vorstellen, wie bestimmt und klar diese bei¬ den Processe bei der Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehen und nebeneinander empfunden wer¬ den: während die wahrhaft ästhetischen Zuschauer mir be¬ stätigen werden, dass unter den eigentümlichen Wirkungen der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei. Man übertrage sich nun dieses Phänomen des ästhetischen Zuschauers in einen analogen Process im tragischen Künstler, und man wird die Genesis des tragischen Mythus verstanden haben. Er theilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und am Schauen, und zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des tra¬ gischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der Verherrlichung des kämpfenden Helden: woher stammt aber jener an sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schick¬ sale des Helden, die schmerzlichsten Ueberwindungen, die qualvollsten Gegensätze der Motive, kurz die Exemplification jener Weisheit des Silen, oder, ästhetisch ausgedrückt, das Hässliche und Disharmonische, in so zahllosen Formen, mit solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt wird und gerade in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines Volkes, wenn nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt wird? Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, würde am wenigsten die Entstehung einer Kunstform er¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —138—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/151>, abgerufen am 29.03.2024.