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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883.

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Sie haben Etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen
sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie's,
es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten.

Drum hören sie ungern von sich das Wort "Ver¬
achtung". So will ich denn zu ihrem Stolze reden.

So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen:
das aber ist der letzte Mensch."

Und also sprach Zarathustra zum Volke:

Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel
stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim
seiner höchsten Hoffnung pflanze.

Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber
dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein
hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können.

Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht
mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen
hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt
hat, zu schwirren!

Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich
sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.

Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen
Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit
des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht
mehr verachten kann.

Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.

"Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist
Sehnsucht? Was ist Stern?" -- so fragt der letzte
Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr

Sie haben Etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen
sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie's,
es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten.

Drum hören sie ungern von sich das Wort „Ver¬
achtung“. So will ich denn zu ihrem Stolze reden.

So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen:
das aber ist der letzte Mensch.“

Und also sprach Zarathustra zum Volke:

Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel
stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim
seiner höchsten Hoffnung pflanze.

Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber
dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein
hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können.

Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht
mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen
hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt
hat, zu schwirren!

Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich
sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.

Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen
Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit
des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht
mehr verachten kann.

Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.

„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist
Sehnsucht? Was ist Stern?“ — so fragt der letzte
Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr

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[15/0021] Sie haben Etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten. Drum hören sie ungern von sich das Wort „Ver¬ achtung“. So will ich denn zu ihrem Stolze reden. So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen: das aber ist der letzte Mensch.“ Und also sprach Zarathustra zum Volke: Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze. Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann. Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. „Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ — so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/21>, abgerufen am 28.03.2024.