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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884.

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Dann wieder misstraute man allen Wahrsagern
und Sterndeutern: und darum glaubte man "Alles
ist Freiheit: du kannst, denn du willst!"

Oh meine Brüder, über Sterne und Zukunft ist
bisher nur gewähnt, nicht gewusst worden: und darum
ist über Gut und Böse bisher nur gewähnt, nicht
gewusst worden!


IO.

"Du sollst nicht rauben! Du sollst nicht todt¬
schlagen!" -- solche Worte hiess man einst heilig; vor
ihnen beugte man Knie und Köpfe und zog die
Schuhe aus.

Aber ich frage euch: wo gab es je bessere Räuber
und Todtschläger in der Welt, als es solche heilige
Worte waren?

Ist in allem Leben selber nicht -- Rauben und Todt¬
schlagen? Und dass solche Worte heilig hiessen, wurde
damit die Wahrheit selber nicht -- todtgeschlagen?

Oder war es eine Predigt des Todes, dass heilig
hiess, was allem Leben widersprach und widerrieth?
-- Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten
Tafeln!


II.

Diess ist mein Mitleid mit allem Vergangenen,
dass ich sehe: es ist preisgegeben, --

-- der Gnade, dem Geiste, dem Wahnsinne jedes
Geschlechtes preisgegeben, das kommt und Alles, was
war, zu seiner Brücke umdeutet!

Dann wieder misstraute man allen Wahrsagern
und Sterndeutern: und darum glaubte man „Alles
ist Freiheit: du kannst, denn du willst!“

Oh meine Brüder, über Sterne und Zukunft ist
bisher nur gewähnt, nicht gewusst worden: und darum
ist über Gut und Böse bisher nur gewähnt, nicht
gewusst worden!


IO.

„Du sollst nicht rauben! Du sollst nicht todt¬
schlagen!“ — solche Worte hiess man einst heilig; vor
ihnen beugte man Knie und Köpfe und zog die
Schuhe aus.

Aber ich frage euch: wo gab es je bessere Räuber
und Todtschläger in der Welt, als es solche heilige
Worte waren?

Ist in allem Leben selber nicht — Rauben und Todt¬
schlagen? Und dass solche Worte heilig hiessen, wurde
damit die Wahrheit selber nicht — todtgeschlagen?

Oder war es eine Predigt des Todes, dass heilig
hiess, was allem Leben widersprach und widerrieth?
— Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten
Tafeln!


II.

Diess ist mein Mitleid mit allem Vergangenen,
dass ich sehe: es ist preisgegeben, —

— der Gnade, dem Geiste, dem Wahnsinne jedes
Geschlechtes preisgegeben, das kommt und Alles, was
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[73/0083] Dann wieder misstraute man allen Wahrsagern und Sterndeutern: und darum glaubte man „Alles ist Freiheit: du kannst, denn du willst!“ Oh meine Brüder, über Sterne und Zukunft ist bisher nur gewähnt, nicht gewusst worden: und darum ist über Gut und Böse bisher nur gewähnt, nicht gewusst worden! IO. „Du sollst nicht rauben! Du sollst nicht todt¬ schlagen!“ — solche Worte hiess man einst heilig; vor ihnen beugte man Knie und Köpfe und zog die Schuhe aus. Aber ich frage euch: wo gab es je bessere Räuber und Todtschläger in der Welt, als es solche heilige Worte waren? Ist in allem Leben selber nicht — Rauben und Todt¬ schlagen? Und dass solche Worte heilig hiessen, wurde damit die Wahrheit selber nicht — todtgeschlagen? Oder war es eine Predigt des Todes, dass heilig hiess, was allem Leben widersprach und widerrieth? — Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln! II. Diess ist mein Mitleid mit allem Vergangenen, dass ich sehe: es ist preisgegeben, — — der Gnade, dem Geiste, dem Wahnsinne jedes Geschlechtes preisgegeben, das kommt und Alles, was war, zu seiner Brücke umdeutet!

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/83>, abgerufen am 29.03.2024.