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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891.

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Ihr flogt nicht hoch genug: nun stammeln die Gräber
"erlöst doch die Todten! Warum ist so lange Nacht?
Macht uns nicht der Mond trunken?"

Ihr höheren Menschen, erlöst doch die Gräber, weckt
die Leichname auf! Ach, was gräbt noch der Wurm?
Es naht, es naht die Stunde, --

-- es brummt die Glocke, es schnarrt noch das
Herz, es gräbt noch der Holzwurm, der Herzenswurm.
Ach! Ach! Die Welt ist tief!


6.

Süsse Leier! Süsse Leier! Ich liebe deinen Ton,
deinen trunkenen Unken-Ton! -- wie lang her, wie fern
her kommt mir dein Ton, weit her, von den Teichen
der Liebe!

Du alte Glocke, du süsse Leier! Jeder Schmerz riss
dir in's Herz, Vaterschmerz, Väterschmerz, Urväter¬
schmerz; deine Rede wurde reif, --

-- reif gleich goldenem Herbste und Nachmittage,
gleich meinem Einsiedlerherzen -- nun redest du: die
Welt selber ward reif, die Traube bräunt,

-- nun will sie sterben, vor Glück sterben. Ihr
höheren Menschen, riecht ihr's nicht? Es quillt heimlich
ein Geruch herauf,

-- ein Duft und Geruch der Ewigkeit, ein rosen¬
seliger brauner Gold-Wein-Geruch von altem Glücke,

-- von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke, wel¬
ches singt: die Welt ist tief und tiefer als der Tag
gedacht
!


Ihr flogt nicht hoch genug: nun stammeln die Gräber
„erlöst doch die Todten! Warum ist so lange Nacht?
Macht uns nicht der Mond trunken?“

Ihr höheren Menschen, erlöst doch die Gräber, weckt
die Leichname auf! Ach, was gräbt noch der Wurm?
Es naht, es naht die Stunde, —

— es brummt die Glocke, es schnarrt noch das
Herz, es gräbt noch der Holzwurm, der Herzenswurm.
Ach! Ach! Die Welt ist tief!


6.

Süsse Leier! Süsse Leier! Ich liebe deinen Ton,
deinen trunkenen Unken-Ton! — wie lang her, wie fern
her kommt mir dein Ton, weit her, von den Teichen
der Liebe!

Du alte Glocke, du süsse Leier! Jeder Schmerz riss
dir in's Herz, Vaterschmerz, Väterschmerz, Urväter¬
schmerz; deine Rede wurde reif, —

— reif gleich goldenem Herbste und Nachmittage,
gleich meinem Einsiedlerherzen — nun redest du: die
Welt selber ward reif, die Traube bräunt,

— nun will sie sterben, vor Glück sterben. Ihr
höheren Menschen, riecht ihr's nicht? Es quillt heimlich
ein Geruch herauf,

— ein Duft und Geruch der Ewigkeit, ein rosen¬
seliger brauner Gold-Wein-Geruch von altem Glücke,

— von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke, wel¬
ches singt: die Welt ist tief und tiefer als der Tag
gedacht
!


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[124/0131] Ihr flogt nicht hoch genug: nun stammeln die Gräber „erlöst doch die Todten! Warum ist so lange Nacht? Macht uns nicht der Mond trunken?“ Ihr höheren Menschen, erlöst doch die Gräber, weckt die Leichname auf! Ach, was gräbt noch der Wurm? Es naht, es naht die Stunde, — — es brummt die Glocke, es schnarrt noch das Herz, es gräbt noch der Holzwurm, der Herzenswurm. Ach! Ach! Die Welt ist tief! 6. Süsse Leier! Süsse Leier! Ich liebe deinen Ton, deinen trunkenen Unken-Ton! — wie lang her, wie fern her kommt mir dein Ton, weit her, von den Teichen der Liebe! Du alte Glocke, du süsse Leier! Jeder Schmerz riss dir in's Herz, Vaterschmerz, Väterschmerz, Urväter¬ schmerz; deine Rede wurde reif, — — reif gleich goldenem Herbste und Nachmittage, gleich meinem Einsiedlerherzen — nun redest du: die Welt selber ward reif, die Traube bräunt, — nun will sie sterben, vor Glück sterben. Ihr höheren Menschen, riecht ihr's nicht? Es quillt heimlich ein Geruch herauf, — ein Duft und Geruch der Ewigkeit, ein rosen¬ seliger brauner Gold-Wein-Geruch von altem Glücke, — von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke, wel¬ ches singt: die Welt ist tief und tiefer als der Tag gedacht!

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 4. Leipzig, 1891, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra04_1891/131>, abgerufen am 23.04.2024.