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Marburger Zeitung. Nr. 124, Marburg, 16.10.1906.

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Marburger Zeitung.



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Schluß für Einschaltungen:
Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags.

Die Einzel[nu]mmer kostet 10 Heller.




Nr. 124 Dienstag, 16. Oktober 1906 45. Jahrgang.



[Spaltenumbruch]
Abg. Waltian in Luttenberg.

Aus Luttenberg, 14. d., wird uns ge-
schrieben:

Gestern hielt hier in Straßers Gasthofsaal
unser Reichsratsabg. Wastian eine Wählerver-
sammlung ab, in der er auch seinen Rechenschafts-
bericht erstattete. Abg. Wastian wurde beim Ein-
tritt in den Saal von der gesamten deutschen
Wählerschaft Luttenbergs mit freudigen Zurufen
begrüßt; der Männergesangverein stimmte das "Grüß
Gott" an. In besonders herzlicher Weise wurde
der Abgeordnete vom Herrn Bürgermeister willkommen
geheißen, der feststellte, daß die seinerzeitige Teilung
in zwei Luttenberger Lager längst der festen
Einigkeit für den Abg. Wastian
gewichen
sei. (Lebhafter Beifall.)

Hierauf ergriff Abg. Wastian das Wort und
schilderte in einer großangelegten, eindreiviertelstün-
digen Rede, die bald wuchtig-ernst, bald gemütvoll-
heiter sich bewegte, die gesamte innerpolitische Lage.
Insbesondere fand die Wahlreform eine gründ-
liche, volkstümliche Erörterung hinsichtlich ihrer Ent-
stehung und bisherigen Beratung im Wahlreform-
ausschusse, sowie auch hinsichtlich ihrer Wirkungen
auf das deutsche Volkstum dieses Staates. Dabei
fiel manches tiefe, ernste Wort über unsere soziale
Verpflichtung den niederen Schichten der Nation
gegenüber, die wir bislang zu unserem Schaden
sträflicherweise vernachlässigt haben. Erst eine
alle Kreise des Volkes mit gleicher Fürsorge
und Wärme umspannende Bewegung habe das Recht,
sich in Ehren als nationale Volkserziehung
und Volksbeglückung auszugeben; die jetzige
Form unserer deutschen Politik sei vielfach nur
Stückwerk, die beiden starken Füße des großen
Körpers, der Bauern- und Arbeiterstand, fehlen
in der Organisation der Deutschbewußten. Der
demokratische Zug der Zeit müsse auch hierin Wandel
[Spaltenumbruch] schaffen, und die Wahlreform werde den von vielen
Kommersen und Festmeiereien verduselten deutschen
Michel mit Skorpionen wachzüchtigen;
er werde dann endlich auch sozial denken lernen
und den störrischen Maulesel der Parteiborniertheit
weniger oft besteigen. Eingehend beleuchtete Abg.
Wastian die Entstehung der untersteirischen Wahl-
kreiseinteilung und warf dabei Schlaglichter auf
die Kampfart der windischen Politik, die von
außerordentlicher Erfassung des Tatsächlichen zeugten
und bei uns Luttenbergern ein lebhaftes Verständnis
finden mußten. Nach den Seßhaftigkeits-, Plurali-
täts-, Herrenhausreformfragen zog der wiederholt
von lauter Zustimmung begleitete Redner die Siche-
rung der Wahlkreiseinteilung
durch die
Zweidrittelmehrheit in den Bereich seiner mit hoher
Spannung aufgenommenen Ausführungen. In dieser
Frage dürfe es eine Nachgiebigkeit umso weniger
geben, weil die Mehrheit der Deutschen wirklich bisher
immer und immer die Nachgiebigeren gewesen
seien, die ohnehin bei der Wahlreform schon viel
mehr geopfert
haben, als sie vor ihrem
Gewissen verantworten können.
Nur
eine zielsichere, unbeugsame Volkspolitik könne bei
der Umgestaltung der Dinge die Einbuße in Macht
langsam wettmachen. Bei der Erörterung der
ungarischen Frage verwies Abg. Wastian auf
seinen in der letzten hiesigen Versammlung betonten
Standpunkt der vollständigen Trennung,
den er natürlich nicht verlassen werde. Die Aus-
beutungen der Magyaren auf den Gebieten der
Transportsteuer, Staatsschuld, Quote, gemeinsamen
Armee usw. fanden eine sehr zutreffende Charakteristik.
Es wäre, sagte der Herr Abgeordnete, geradezu ein
Verbrechen, ein einheitliches Wirtschaftsgebiet auf-
recht zu erhalten, wo doch die handelspolitischen
Wege jenseits der Leitha ganz andere sind als bei
uns. Mit einer alle Anwesenden mächtig packenden
Schlußwendung schloß Abg. Wastian. Er gebrauchte
das Gleichnis eines vom Aschenregen des Vesuv
[Spaltenumbruch] verschütteten römischen Kriegers, den man nach
neunzehnhundert Jahren bei den pompejanischen
Ausgrabungen, als Thorwächter aufrechtstehend,
in voller Rüstung fand, mit Beziehung auf unsere
Grenzwachtverhältnisse. Auch uns dürfe keine
elementare Erschütterung wankend machen oder von
der Wachtstellung abbringen und unser Schild müsse
makellos die Losung tragen: Bis zum Tode
getreu der Pflicht!
Die stürmischen Zustim-
mungsäußerungen, die der Rede folgten, erneuten
sich elementar, als der Herr Bürgermeister Notar
Thurn in schwungvoller Ansprache dem allver-
ehrten Herrn Abg. Wastian den Dank der Wähler-
schaft für sein hervorragendes Wirken ausdrückte.
Nur der eine Gedanke, führte Bürgermeister Thurn
aus, stimmt uns traurig, daß wir Wastian bei der
Neugestaltung der Wahlverhältnisse an die Marburger
verlieren können. Wir werden aber jedenfalls
trachten, ihn für uns zu erhalten oder ihn bitten,
stets ein so warmer Vertreter der Luttenberger In-
teressen zu bleiben, wie er es bisher war.

Lehrer Herr Voller beantragte hierauf die
Annahme der nachstehenden

Entschließung:

"Die heute versammelte deutsche Reichsrats-
wählerschaft in Luttenberg nimmt die glänzenden
Ausführungen ihres hochverdienten Abgeordneten
Heinrich Wastian freudigst-dankend zur Kenntnis;
sie drückt ihrem nimmermüden Reichsboten das
vollste Vertrauen aus und ersucht ihn, mit allen
Mitteln und mit rücksichtsloser Entschie-
denheit
dafür einzutreten, daß die im Wahl-
reformausschusse bereits beschlossene Wahlkreis-
einteilung nur durch eine Zweidrittel-
mehrheit abgeändert werden könne,
und
sollte darüber die Wahlreform selbst in Brüche gehen.
Im Hinblicke auf das im Zuge befindliche Wahl-
reformwerk betrachtet es die Luttenberger deutsche
Wählerschaft aus politischen wie aus wirtschaftlichen




[Spaltenumbruch]
Esther Holm.
Roman aus der nordischen Heide.

32) <hr (Nachdruck verboten.)

"Solche gemeinsam durchlebten Stunden
aber führen die Menschen einander näher -- und
da ich sonst nichts gegen Sie einzuwenden habe,
nehme ich nicht allein Ihre Freundschaft an, sondern
gestehe auch, daß ich mich darüber freue!"

Sie streckte ihm, halb im Scherze, die Rechte
hin, wie um nach Mannesart den Bund zu besiegeln,
und Uwe Jens umschloß sie mit festem Druck.
Wäre Esther Holm nur nicht so unbefangen und
sicher gewesen, mit welch' innerem Jubel würde er
in diesem Moment eine Verwirrung, ein verlegenes
Erröten begrüßt haben. Vergebens; ein Standpunkt
aber, der mit solcher Überzeugung verfochten
wurde, besaß schließlich doch seine Berechtigung --
es blieb ihm nichts übrig, als unbewußt den Kampf
fortzusetzen, in welchem einer von ihnen siegen mußte.

Denn trotz allem irrte sie sich doch. Und eines
Tages würde die große Stunde da sein, wo sie,
das Weib, gedemütigt vor ihm stehen würde --
durch die Liebe. Oder auch nicht? Gehörte Esther
Holm zu jenen Ausnahmen, die durch ihren Irrtum,
an dem sie mit der Zähigkeit des Trotzes festhalten,
zu Grunde gehen?

Trauer ergriff ihn bei diesem Gedanken. Die
Feiertagsstimmung des Abschiedes bei Sonnenauf-
gang kam wieder über ihn, wie so oft in der Nähe.
[Spaltenumbruch] Nie hatte er Esther Holm so echt weiblich ein-
nehmend, nie das ovale Antlitz so durchgeistigt,
edel und energisch gesehen.

Und von neuem schwankte er.

Sie ahnte nicht, welch ein fragwürdiges Ge-
schenk sie ihm mit dieser Freundschaft, die ihn doch
so unendlich beglückte, gemacht. Mit jedem Blick
und Wort würde er auf der Hut sein müssen, das,
was in ihm vorging unter der Maske biederen
Wohlwollens zu verbergen; aber es würde ihm
gelingen, so hoffte er zum wenigsten. Ja, von ihrer
Begeisterung geleitet, wollte er sogar dem Ideale
folgen, das sie und ihn hoch über alles Irdische
erheben sollte, dem Ideal der Reinheit und Ent-
sagung! Hier angekommen, mußte Uwe Jens über
sich selbst lächeln. Nein, das war törichte Schwär-
merei. Als Menschen gehörten sie der Erde und
blieben ihren ehernen Gesetzen untertan, gegen die
sich ungestraft kein Sterblicher erhebt.

"Was mir dieser Tag gebracht, bezeichnet ihn
als den schönsten meines Lebens; denn ich wüßte
nicht, daß es Besseres gäbe, als die Freundschaft
einer edlen Frau, und meine ganze Kraft werde ich
einsetzen, Ihnen das Geschenk zurückzugeben."

Aus seiner Stimme klang ein weiches Em-
pfinden, das Esther traf und zu ihrem Unwillen
die Wangen tiefer färbte.

"So wollen wir in unserer Freundschaft stark
sein und der Welt beweisen, daß sie log mit ihrem
törichten Geschwätz, es könne eine reine Freundschaft
zwischen Mann und Weib nicht bestehen", entgeg-
nete sie ruhig kühl. --

Jenseits des Meeres stand unter dem leuchtend
[Spaltenumbruch] blauen Himmel die Sonne groß und glanzlos auf
einem Strahlensockel und erfüllte die von flimmern-
den Sternchen funkelnde Luft mit feuchtem Rot,
das die kalte Kirche färbte und alle weißen Zweige
der Bäume und Gebüsche magisch umschloß -- eine
Symphonie der Farben, die sich in zarte Töne
aufzulösen schien, wie verhallende Musik. So kam
es Uwe Jens vor, während er unbemerkt Esther
betrachtete, als sie, die Seele von dem abendlichen
Bilde, sinnend inmitten der winterliche Pracht
stand.

Auch sie empfand die Festtagsstimmung der
Natur -- ein leises, weiches Sehnen berührte sie
wie Geisterhauch und zog vibrierend durch ihr
ganzes Sein, ein verlorener Hauch, wie die Ahnung
einer großen, namenlosen Seligkeit. Dann war es
ausgelöscht und sie wurde nachdenklich.

Eins war ihr klar geworden um diese Stunde:
daß sie zu kämpfen haben würde gegen Uwe Jens
Karlsen. "Das ist der Mann, dem ich begegnen
mußte, um meine Willensstärke an ihm zu messen",
sagte sie sich.

"Ein Gegner, der nicht zu verachten ist --
aber ich werde ihn besiegen!"

Die zögernde, farbenleuchtende Dämmerung
atmete einen wunderbaren Frieden aus; die Sonne
war gesunken, doch eine dunkelglühende Purpur-
wand stand noch hinter Streifenwolken im Westen
und ließ die Eisfläche des Gartens in zartem
Glitzern erstrahlen. Von den Fenstern des Pfarr-
hauses her schimmerte schon Licht, die älteren
Herrschaften hatten ihre Whistpartie beendet, und


Marburger Zeitung.



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Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und
Samstag abends.

Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von
11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4.

Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon-Nr. 24.)


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und koſtet die fünfmalgeſpaltene Kleinzeile 12 h.

Schluß für Einſchaltungen:
Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags.

Die Einzel[nu]mmer koſtet 10 Heller.




Nr. 124 Dienstag, 16. Oktober 1906 45. Jahrgang.



[Spaltenumbruch]
Abg. Waltian in Luttenberg.

Aus Luttenberg, 14. d., wird uns ge-
ſchrieben:

Geſtern hielt hier in Straßers Gaſthofſaal
unſer Reichsratsabg. Waſtian eine Wählerver-
ſammlung ab, in der er auch ſeinen Rechenſchafts-
bericht erſtattete. Abg. Waſtian wurde beim Ein-
tritt in den Saal von der geſamten deutſchen
Wählerſchaft Luttenbergs mit freudigen Zurufen
begrüßt; der Männergeſangverein ſtimmte das „Grüß
Gott“ an. In beſonders herzlicher Weiſe wurde
der Abgeordnete vom Herrn Bürgermeiſter willkommen
geheißen, der feſtſtellte, daß die ſeinerzeitige Teilung
in zwei Luttenberger Lager längſt der feſten
Einigkeit für den Abg. Waſtian
gewichen
ſei. (Lebhafter Beifall.)

Hierauf ergriff Abg. Waſtian das Wort und
ſchilderte in einer großangelegten, eindreiviertelſtün-
digen Rede, die bald wuchtig-ernſt, bald gemütvoll-
heiter ſich bewegte, die geſamte innerpolitiſche Lage.
Insbeſondere fand die Wahlreform eine gründ-
liche, volkstümliche Erörterung hinſichtlich ihrer Ent-
ſtehung und bisherigen Beratung im Wahlreform-
ausſchuſſe, ſowie auch hinſichtlich ihrer Wirkungen
auf das deutſche Volkstum dieſes Staates. Dabei
fiel manches tiefe, ernſte Wort über unſere ſoziale
Verpflichtung den niederen Schichten der Nation
gegenüber, die wir bislang zu unſerem Schaden
ſträflicherweiſe vernachläſſigt haben. Erſt eine
alle Kreiſe des Volkes mit gleicher Fürſorge
und Wärme umſpannende Bewegung habe das Recht,
ſich in Ehren als nationale Volkserziehung
und Volksbeglückung auszugeben; die jetzige
Form unſerer deutſchen Politik ſei vielfach nur
Stückwerk, die beiden ſtarken Füße des großen
Körpers, der Bauern- und Arbeiterſtand, fehlen
in der Organiſation der Deutſchbewußten. Der
demokratiſche Zug der Zeit müſſe auch hierin Wandel
[Spaltenumbruch] ſchaffen, und die Wahlreform werde den von vielen
Kommerſen und Feſtmeiereien verduſelten deutſchen
Michel mit Skorpionen wachzüchtigen;
er werde dann endlich auch ſozial denken lernen
und den ſtörriſchen Mauleſel der Parteiborniertheit
weniger oft beſteigen. Eingehend beleuchtete Abg.
Waſtian die Entſtehung der unterſteiriſchen Wahl-
kreiseinteilung und warf dabei Schlaglichter auf
die Kampfart der windiſchen Politik, die von
außerordentlicher Erfaſſung des Tatſächlichen zeugten
und bei uns Luttenbergern ein lebhaftes Verſtändnis
finden mußten. Nach den Seßhaftigkeits-, Plurali-
täts-, Herrenhausreformfragen zog der wiederholt
von lauter Zuſtimmung begleitete Redner die Siche-
rung der Wahlkreiseinteilung
durch die
Zweidrittelmehrheit in den Bereich ſeiner mit hoher
Spannung aufgenommenen Ausführungen. In dieſer
Frage dürfe es eine Nachgiebigkeit umſo weniger
geben, weil die Mehrheit der Deutſchen wirklich bisher
immer und immer die Nachgiebigeren geweſen
ſeien, die ohnehin bei der Wahlreform ſchon viel
mehr geopfert
haben, als ſie vor ihrem
Gewiſſen verantworten können.
Nur
eine zielſichere, unbeugſame Volkspolitik könne bei
der Umgeſtaltung der Dinge die Einbuße in Macht
langſam wettmachen. Bei der Erörterung der
ungariſchen Frage verwies Abg. Waſtian auf
ſeinen in der letzten hieſigen Verſammlung betonten
Standpunkt der vollſtändigen Trennung,
den er natürlich nicht verlaſſen werde. Die Aus-
beutungen der Magyaren auf den Gebieten der
Transportſteuer, Staatsſchuld, Quote, gemeinſamen
Armee uſw. fanden eine ſehr zutreffende Charakteriſtik.
Es wäre, ſagte der Herr Abgeordnete, geradezu ein
Verbrechen, ein einheitliches Wirtſchaftsgebiet auf-
recht zu erhalten, wo doch die handelspolitiſchen
Wege jenſeits der Leitha ganz andere ſind als bei
uns. Mit einer alle Anweſenden mächtig packenden
Schlußwendung ſchloß Abg. Waſtian. Er gebrauchte
das Gleichnis eines vom Aſchenregen des Veſuv
[Spaltenumbruch] verſchütteten römiſchen Kriegers, den man nach
neunzehnhundert Jahren bei den pompejaniſchen
Ausgrabungen, als Thorwächter aufrechtſtehend,
in voller Rüſtung fand, mit Beziehung auf unſere
Grenzwachtverhältniſſe. Auch uns dürfe keine
elementare Erſchütterung wankend machen oder von
der Wachtſtellung abbringen und unſer Schild müſſe
makellos die Loſung tragen: Bis zum Tode
getreu der Pflicht!
Die ſtürmiſchen Zuſtim-
mungsäußerungen, die der Rede folgten, erneuten
ſich elementar, als der Herr Bürgermeiſter Notar
Thurn in ſchwungvoller Anſprache dem allver-
ehrten Herrn Abg. Waſtian den Dank der Wähler-
ſchaft für ſein hervorragendes Wirken ausdrückte.
Nur der eine Gedanke, führte Bürgermeiſter Thurn
aus, ſtimmt uns traurig, daß wir Waſtian bei der
Neugeſtaltung der Wahlverhältniſſe an die Marburger
verlieren können. Wir werden aber jedenfalls
trachten, ihn für uns zu erhalten oder ihn bitten,
ſtets ein ſo warmer Vertreter der Luttenberger In-
tereſſen zu bleiben, wie er es bisher war.

Lehrer Herr Voller beantragte hierauf die
Annahme der nachſtehenden

Entſchließung:

„Die heute verſammelte deutſche Reichsrats-
wählerſchaft in Luttenberg nimmt die glänzenden
Ausführungen ihres hochverdienten Abgeordneten
Heinrich Waſtian freudigſt-dankend zur Kenntnis;
ſie drückt ihrem nimmermüden Reichsboten das
vollſte Vertrauen aus und erſucht ihn, mit allen
Mitteln und mit rückſichtsloſer Entſchie-
denheit
dafür einzutreten, daß die im Wahl-
reformausſchuſſe bereits beſchloſſene Wahlkreis-
einteilung nur durch eine Zweidrittel-
mehrheit abgeändert werden könne,
und
ſollte darüber die Wahlreform ſelbſt in Brüche gehen.
Im Hinblicke auf das im Zuge befindliche Wahl-
reformwerk betrachtet es die Luttenberger deutſche
Wählerſchaft aus politiſchen wie aus wirtſchaftlichen




[Spaltenumbruch]
Eſther Holm.
Roman aus der nordiſchen Heide.

32) <hr (Nachdruck verboten.)

„Solche gemeinſam durchlebten Stunden
aber führen die Menſchen einander näher — und
da ich ſonſt nichts gegen Sie einzuwenden habe,
nehme ich nicht allein Ihre Freundſchaft an, ſondern
geſtehe auch, daß ich mich darüber freue!“

Sie ſtreckte ihm, halb im Scherze, die Rechte
hin, wie um nach Mannesart den Bund zu beſiegeln,
und Uwe Jens umſchloß ſie mit feſtem Druck.
Wäre Eſther Holm nur nicht ſo unbefangen und
ſicher geweſen, mit welch’ innerem Jubel würde er
in dieſem Moment eine Verwirrung, ein verlegenes
Erröten begrüßt haben. Vergebens; ein Standpunkt
aber, der mit ſolcher Überzeugung verfochten
wurde, beſaß ſchließlich doch ſeine Berechtigung —
es blieb ihm nichts übrig, als unbewußt den Kampf
fortzuſetzen, in welchem einer von ihnen ſiegen mußte.

Denn trotz allem irrte ſie ſich doch. Und eines
Tages würde die große Stunde da ſein, wo ſie,
das Weib, gedemütigt vor ihm ſtehen würde —
durch die Liebe. Oder auch nicht? Gehörte Eſther
Holm zu jenen Ausnahmen, die durch ihren Irrtum,
an dem ſie mit der Zähigkeit des Trotzes feſthalten,
zu Grunde gehen?

Trauer ergriff ihn bei dieſem Gedanken. Die
Feiertagsſtimmung des Abſchiedes bei Sonnenauf-
gang kam wieder über ihn, wie ſo oft in der Nähe.
[Spaltenumbruch] Nie hatte er Eſther Holm ſo echt weiblich ein-
nehmend, nie das ovale Antlitz ſo durchgeiſtigt,
edel und energiſch geſehen.

Und von neuem ſchwankte er.

Sie ahnte nicht, welch ein fragwürdiges Ge-
ſchenk ſie ihm mit dieſer Freundſchaft, die ihn doch
ſo unendlich beglückte, gemacht. Mit jedem Blick
und Wort würde er auf der Hut ſein müſſen, das,
was in ihm vorging unter der Maske biederen
Wohlwollens zu verbergen; aber es würde ihm
gelingen, ſo hoffte er zum wenigſten. Ja, von ihrer
Begeiſterung geleitet, wollte er ſogar dem Ideale
folgen, das ſie und ihn hoch über alles Irdiſche
erheben ſollte, dem Ideal der Reinheit und Ent-
ſagung! Hier angekommen, mußte Uwe Jens über
ſich ſelbſt lächeln. Nein, das war törichte Schwär-
merei. Als Menſchen gehörten ſie der Erde und
blieben ihren ehernen Geſetzen untertan, gegen die
ſich ungeſtraft kein Sterblicher erhebt.

„Was mir dieſer Tag gebracht, bezeichnet ihn
als den ſchönſten meines Lebens; denn ich wüßte
nicht, daß es Beſſeres gäbe, als die Freundſchaft
einer edlen Frau, und meine ganze Kraft werde ich
einſetzen, Ihnen das Geſchenk zurückzugeben.“

Aus ſeiner Stimme klang ein weiches Em-
pfinden, das Eſther traf und zu ihrem Unwillen
die Wangen tiefer färbte.

„So wollen wir in unſerer Freundſchaft ſtark
ſein und der Welt beweiſen, daß ſie log mit ihrem
törichten Geſchwätz, es könne eine reine Freundſchaft
zwiſchen Mann und Weib nicht beſtehen“, entgeg-
nete ſie ruhig kühl. —

Jenſeits des Meeres ſtand unter dem leuchtend
[Spaltenumbruch] blauen Himmel die Sonne groß und glanzlos auf
einem Strahlenſockel und erfüllte die von flimmern-
den Sternchen funkelnde Luft mit feuchtem Rot,
das die kalte Kirche färbte und alle weißen Zweige
der Bäume und Gebüſche magiſch umſchloß — eine
Symphonie der Farben, die ſich in zarte Töne
aufzulöſen ſchien, wie verhallende Muſik. So kam
es Uwe Jens vor, während er unbemerkt Eſther
betrachtete, als ſie, die Seele von dem abendlichen
Bilde, ſinnend inmitten der winterliche Pracht
ſtand.

Auch ſie empfand die Feſttagsſtimmung der
Natur — ein leiſes, weiches Sehnen berührte ſie
wie Geiſterhauch und zog vibrierend durch ihr
ganzes Sein, ein verlorener Hauch, wie die Ahnung
einer großen, namenloſen Seligkeit. Dann war es
ausgelöſcht und ſie wurde nachdenklich.

Eins war ihr klar geworden um dieſe Stunde:
daß ſie zu kämpfen haben würde gegen Uwe Jens
Karlſen. „Das iſt der Mann, dem ich begegnen
mußte, um meine Willensſtärke an ihm zu meſſen“,
ſagte ſie ſich.

„Ein Gegner, der nicht zu verachten iſt —
aber ich werde ihn beſiegen!“

Die zögernde, farbenleuchtende Dämmerung
atmete einen wunderbaren Frieden aus; die Sonne
war geſunken, doch eine dunkelglühende Purpur-
wand ſtand noch hinter Streifenwolken im Weſten
und ließ die Eisfläche des Gartens in zartem
Glitzern erſtrahlen. Von den Fenſtern des Pfarr-
hauſes her ſchimmerte ſchon Licht, die älteren
Herrſchaften hatten ihre Whiſtpartie beendet, und


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[[1]/0001] Marburger Zeitung. Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg: Ganzjährig 12 K. halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat- lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr. Mit Poſtverſendung: Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h. Das Abonnement dauert bis zur ſchriftlichen Abbeſtellung. Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag abends. Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von 11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4. Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon-Nr. 24.) Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen und koſtet die fünfmalgeſpaltene Kleinzeile 12 h. Schluß für Einſchaltungen: Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags. Die Einzelnummer koſtet 10 Heller. Nr. 124 Dienstag, 16. Oktober 1906 45. Jahrgang. Abg. Waltian in Luttenberg. Aus Luttenberg, 14. d., wird uns ge- ſchrieben: Geſtern hielt hier in Straßers Gaſthofſaal unſer Reichsratsabg. Waſtian eine Wählerver- ſammlung ab, in der er auch ſeinen Rechenſchafts- bericht erſtattete. Abg. Waſtian wurde beim Ein- tritt in den Saal von der geſamten deutſchen Wählerſchaft Luttenbergs mit freudigen Zurufen begrüßt; der Männergeſangverein ſtimmte das „Grüß Gott“ an. In beſonders herzlicher Weiſe wurde der Abgeordnete vom Herrn Bürgermeiſter willkommen geheißen, der feſtſtellte, daß die ſeinerzeitige Teilung in zwei Luttenberger Lager längſt der feſten Einigkeit für den Abg. Waſtian gewichen ſei. (Lebhafter Beifall.) Hierauf ergriff Abg. Waſtian das Wort und ſchilderte in einer großangelegten, eindreiviertelſtün- digen Rede, die bald wuchtig-ernſt, bald gemütvoll- heiter ſich bewegte, die geſamte innerpolitiſche Lage. Insbeſondere fand die Wahlreform eine gründ- liche, volkstümliche Erörterung hinſichtlich ihrer Ent- ſtehung und bisherigen Beratung im Wahlreform- ausſchuſſe, ſowie auch hinſichtlich ihrer Wirkungen auf das deutſche Volkstum dieſes Staates. Dabei fiel manches tiefe, ernſte Wort über unſere ſoziale Verpflichtung den niederen Schichten der Nation gegenüber, die wir bislang zu unſerem Schaden ſträflicherweiſe vernachläſſigt haben. Erſt eine alle Kreiſe des Volkes mit gleicher Fürſorge und Wärme umſpannende Bewegung habe das Recht, ſich in Ehren als nationale Volkserziehung und Volksbeglückung auszugeben; die jetzige Form unſerer deutſchen Politik ſei vielfach nur Stückwerk, die beiden ſtarken Füße des großen Körpers, der Bauern- und Arbeiterſtand, fehlen in der Organiſation der Deutſchbewußten. Der demokratiſche Zug der Zeit müſſe auch hierin Wandel ſchaffen, und die Wahlreform werde den von vielen Kommerſen und Feſtmeiereien verduſelten deutſchen Michel mit Skorpionen wachzüchtigen; er werde dann endlich auch ſozial denken lernen und den ſtörriſchen Mauleſel der Parteiborniertheit weniger oft beſteigen. Eingehend beleuchtete Abg. Waſtian die Entſtehung der unterſteiriſchen Wahl- kreiseinteilung und warf dabei Schlaglichter auf die Kampfart der windiſchen Politik, die von außerordentlicher Erfaſſung des Tatſächlichen zeugten und bei uns Luttenbergern ein lebhaftes Verſtändnis finden mußten. Nach den Seßhaftigkeits-, Plurali- täts-, Herrenhausreformfragen zog der wiederholt von lauter Zuſtimmung begleitete Redner die Siche- rung der Wahlkreiseinteilung durch die Zweidrittelmehrheit in den Bereich ſeiner mit hoher Spannung aufgenommenen Ausführungen. In dieſer Frage dürfe es eine Nachgiebigkeit umſo weniger geben, weil die Mehrheit der Deutſchen wirklich bisher immer und immer die Nachgiebigeren geweſen ſeien, die ohnehin bei der Wahlreform ſchon viel mehr geopfert haben, als ſie vor ihrem Gewiſſen verantworten können. Nur eine zielſichere, unbeugſame Volkspolitik könne bei der Umgeſtaltung der Dinge die Einbuße in Macht langſam wettmachen. Bei der Erörterung der ungariſchen Frage verwies Abg. Waſtian auf ſeinen in der letzten hieſigen Verſammlung betonten Standpunkt der vollſtändigen Trennung, den er natürlich nicht verlaſſen werde. Die Aus- beutungen der Magyaren auf den Gebieten der Transportſteuer, Staatsſchuld, Quote, gemeinſamen Armee uſw. fanden eine ſehr zutreffende Charakteriſtik. Es wäre, ſagte der Herr Abgeordnete, geradezu ein Verbrechen, ein einheitliches Wirtſchaftsgebiet auf- recht zu erhalten, wo doch die handelspolitiſchen Wege jenſeits der Leitha ganz andere ſind als bei uns. Mit einer alle Anweſenden mächtig packenden Schlußwendung ſchloß Abg. Waſtian. Er gebrauchte das Gleichnis eines vom Aſchenregen des Veſuv verſchütteten römiſchen Kriegers, den man nach neunzehnhundert Jahren bei den pompejaniſchen Ausgrabungen, als Thorwächter aufrechtſtehend, in voller Rüſtung fand, mit Beziehung auf unſere Grenzwachtverhältniſſe. Auch uns dürfe keine elementare Erſchütterung wankend machen oder von der Wachtſtellung abbringen und unſer Schild müſſe makellos die Loſung tragen: Bis zum Tode getreu der Pflicht! Die ſtürmiſchen Zuſtim- mungsäußerungen, die der Rede folgten, erneuten ſich elementar, als der Herr Bürgermeiſter Notar Thurn in ſchwungvoller Anſprache dem allver- ehrten Herrn Abg. Waſtian den Dank der Wähler- ſchaft für ſein hervorragendes Wirken ausdrückte. Nur der eine Gedanke, führte Bürgermeiſter Thurn aus, ſtimmt uns traurig, daß wir Waſtian bei der Neugeſtaltung der Wahlverhältniſſe an die Marburger verlieren können. Wir werden aber jedenfalls trachten, ihn für uns zu erhalten oder ihn bitten, ſtets ein ſo warmer Vertreter der Luttenberger In- tereſſen zu bleiben, wie er es bisher war. Lehrer Herr Voller beantragte hierauf die Annahme der nachſtehenden Entſchließung: „Die heute verſammelte deutſche Reichsrats- wählerſchaft in Luttenberg nimmt die glänzenden Ausführungen ihres hochverdienten Abgeordneten Heinrich Waſtian freudigſt-dankend zur Kenntnis; ſie drückt ihrem nimmermüden Reichsboten das vollſte Vertrauen aus und erſucht ihn, mit allen Mitteln und mit rückſichtsloſer Entſchie- denheit dafür einzutreten, daß die im Wahl- reformausſchuſſe bereits beſchloſſene Wahlkreis- einteilung nur durch eine Zweidrittel- mehrheit abgeändert werden könne, und ſollte darüber die Wahlreform ſelbſt in Brüche gehen. Im Hinblicke auf das im Zuge befindliche Wahl- reformwerk betrachtet es die Luttenberger deutſche Wählerſchaft aus politiſchen wie aus wirtſchaftlichen Eſther Holm. Roman aus der nordiſchen Heide. Von B. Riedel-Ahrens. 32) <hr (Nachdruck verboten.) „Solche gemeinſam durchlebten Stunden aber führen die Menſchen einander näher — und da ich ſonſt nichts gegen Sie einzuwenden habe, nehme ich nicht allein Ihre Freundſchaft an, ſondern geſtehe auch, daß ich mich darüber freue!“ Sie ſtreckte ihm, halb im Scherze, die Rechte hin, wie um nach Mannesart den Bund zu beſiegeln, und Uwe Jens umſchloß ſie mit feſtem Druck. Wäre Eſther Holm nur nicht ſo unbefangen und ſicher geweſen, mit welch’ innerem Jubel würde er in dieſem Moment eine Verwirrung, ein verlegenes Erröten begrüßt haben. Vergebens; ein Standpunkt aber, der mit ſolcher Überzeugung verfochten wurde, beſaß ſchließlich doch ſeine Berechtigung — es blieb ihm nichts übrig, als unbewußt den Kampf fortzuſetzen, in welchem einer von ihnen ſiegen mußte. Denn trotz allem irrte ſie ſich doch. Und eines Tages würde die große Stunde da ſein, wo ſie, das Weib, gedemütigt vor ihm ſtehen würde — durch die Liebe. Oder auch nicht? Gehörte Eſther Holm zu jenen Ausnahmen, die durch ihren Irrtum, an dem ſie mit der Zähigkeit des Trotzes feſthalten, zu Grunde gehen? Trauer ergriff ihn bei dieſem Gedanken. Die Feiertagsſtimmung des Abſchiedes bei Sonnenauf- gang kam wieder über ihn, wie ſo oft in der Nähe. Nie hatte er Eſther Holm ſo echt weiblich ein- nehmend, nie das ovale Antlitz ſo durchgeiſtigt, edel und energiſch geſehen. Und von neuem ſchwankte er. Sie ahnte nicht, welch ein fragwürdiges Ge- ſchenk ſie ihm mit dieſer Freundſchaft, die ihn doch ſo unendlich beglückte, gemacht. Mit jedem Blick und Wort würde er auf der Hut ſein müſſen, das, was in ihm vorging unter der Maske biederen Wohlwollens zu verbergen; aber es würde ihm gelingen, ſo hoffte er zum wenigſten. Ja, von ihrer Begeiſterung geleitet, wollte er ſogar dem Ideale folgen, das ſie und ihn hoch über alles Irdiſche erheben ſollte, dem Ideal der Reinheit und Ent- ſagung! Hier angekommen, mußte Uwe Jens über ſich ſelbſt lächeln. Nein, das war törichte Schwär- merei. Als Menſchen gehörten ſie der Erde und blieben ihren ehernen Geſetzen untertan, gegen die ſich ungeſtraft kein Sterblicher erhebt. „Was mir dieſer Tag gebracht, bezeichnet ihn als den ſchönſten meines Lebens; denn ich wüßte nicht, daß es Beſſeres gäbe, als die Freundſchaft einer edlen Frau, und meine ganze Kraft werde ich einſetzen, Ihnen das Geſchenk zurückzugeben.“ Aus ſeiner Stimme klang ein weiches Em- pfinden, das Eſther traf und zu ihrem Unwillen die Wangen tiefer färbte. „So wollen wir in unſerer Freundſchaft ſtark ſein und der Welt beweiſen, daß ſie log mit ihrem törichten Geſchwätz, es könne eine reine Freundſchaft zwiſchen Mann und Weib nicht beſtehen“, entgeg- nete ſie ruhig kühl. — Jenſeits des Meeres ſtand unter dem leuchtend blauen Himmel die Sonne groß und glanzlos auf einem Strahlenſockel und erfüllte die von flimmern- den Sternchen funkelnde Luft mit feuchtem Rot, das die kalte Kirche färbte und alle weißen Zweige der Bäume und Gebüſche magiſch umſchloß — eine Symphonie der Farben, die ſich in zarte Töne aufzulöſen ſchien, wie verhallende Muſik. So kam es Uwe Jens vor, während er unbemerkt Eſther betrachtete, als ſie, die Seele von dem abendlichen Bilde, ſinnend inmitten der winterliche Pracht ſtand. Auch ſie empfand die Feſttagsſtimmung der Natur — ein leiſes, weiches Sehnen berührte ſie wie Geiſterhauch und zog vibrierend durch ihr ganzes Sein, ein verlorener Hauch, wie die Ahnung einer großen, namenloſen Seligkeit. Dann war es ausgelöſcht und ſie wurde nachdenklich. Eins war ihr klar geworden um dieſe Stunde: daß ſie zu kämpfen haben würde gegen Uwe Jens Karlſen. „Das iſt der Mann, dem ich begegnen mußte, um meine Willensſtärke an ihm zu meſſen“, ſagte ſie ſich. „Ein Gegner, der nicht zu verachten iſt — aber ich werde ihn beſiegen!“ Die zögernde, farbenleuchtende Dämmerung atmete einen wunderbaren Frieden aus; die Sonne war geſunken, doch eine dunkelglühende Purpur- wand ſtand noch hinter Streifenwolken im Weſten und ließ die Eisfläche des Gartens in zartem Glitzern erſtrahlen. Von den Fenſtern des Pfarr- hauſes her ſchimmerte ſchon Licht, die älteren Herrſchaften hatten ihre Whiſtpartie beendet, und

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Benjamin Fiechter, Susanne Haaf: Bereitstellung der digitalen Textausgabe (Konvertierung in das DTA-Basisformat). (2018-01-26T13:38:42Z)
grepect GmbH: Bereitstellung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z)

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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 124, Marburg, 16.10.1906, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger124_1906/1>, abgerufen am 28.03.2024.