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[Kohlrausch, Henriette]: Physikalische Geographie. Vorgetragen von Alexander von Humboldt. [Berlin], [1828]. [= Nachschrift der ‚Kosmos-Vorträge‛ Alexander von Humboldts in der Sing-Akademie zu Berlin, 6.12.1827–27.3.1828.]

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die selbst unter dem Aequator die Schneegrenze erreichen.

Merkwürdig, und unstreitig einwirkend ist es, daß um dieselbe Zeit die-
ser wichtigen Entdeckung die schönsten Gebilde der griechischen Kunst, aus dem
Schooße der Erde ans Licht kamen, und aus ihren Gräbern wieder hervorgin-
gen. Von 1498-1506 fand man den Laocoon, den Apoll und den Torso.
Gleichzeitig mußten auch Luther und Calvin auftreten, um dem menschlichen
Geschlechte eine neue Geistes-Freiheit und -Stärke, (denn beide sind eins) zu
erwerben.

Copernicus neues Weltsystem wurde erst kurz vor dem Tode des großen
Mannes bekannt, um das Jahr 1543, obgleich es erwiesen ist, daß er es un-
gleich früher vollendet hatte. Bei seiner gründlichen Bekanntschaft mit dem
klassischen Alterthume hatte er gefunden, daß mehrere alte Schriftsteller, wie
Nicetas, Ecphontes pp. von einer Bewegung der Erde reden, und wenn dies auch
auf eine leere, nichts sagende Weise geschieht, so hatte er doch darin Veranla-
ßung gefunden näher darüber nachzudenken. Er glaubte nur das System des
Philolaus herzustellen, obgleich dieser keinesweges die Sonne, sondern einen
großen Weltheerd als Mittelpunkt des Weltgebäudes annahm. Besonders be-
geisterte ihn, wie Prof. Ideler nachgewiesen hat, eine Stelle aus dem Werke des
Martianus Capella, der den Mercur und die Venus um die Sonne kreisen
läßt. Die dem System des Copernicus analogste Stelle, die bei den Alten
über die Bewegung der Erde vorkommt, die vom Aristarch von Samos kann
er nicht einmal gekannt haben. Sie steht im Arenarius des Archimedes, der nach
Ideler, erst ein Jahr nach des Copernicus Tode zu Venedig herauskam.

die selbst unter dem Aequator die Schneegrenze erreichen.

Merkwürdig, und unstreitig einwirkend ist es, daß um dieselbe Zeit die-
ser wichtigen Entdeckung die schönsten Gebilde der griechischen Kunst, aus dem
Schooße der Erde ans Licht kamen, und aus ihren Gräbern wieder hervorgin-
gen. Von 1498–1506 fand man den Laocoon, den Apoll und den Torso.
Gleichzeitig mußten auch Luther und Calvin auftreten, um dem menschlichen
Geschlechte eine neue Geistes-Freiheit und -Stärke, (denn beide sind eins) zu
erwerben.

Copernicus neues Weltsystem wurde erst kurz vor dem Tode des großen
Mannes bekannt, um das Jahr 1543, obgleich es erwiesen ist, daß er es un-
gleich früher vollendet hatte. Bei seiner gründlichen Bekanntschaft mit dem
klassischen Alterthume hatte er gefunden, daß mehrere alte Schriftsteller, wie
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ßung gefunden näher darüber nachzudenken. Er glaubte nur das System des
Philolaus herzustellen, obgleich dieser keinesweges die Sonne, sondern einen
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geisterte ihn, wie Prof. Ideler nachgewiesen hat, eine Stelle aus dem Werke des
Martianus Capella, der den Mercur und die Venus um die Sonne kreisen
läßt. Die dem System des Copernicus analogste Stelle, die bei den Alten
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christian Thomas: Herausgeber
Benjamin Fiechter, Christian Thomas: Bearbeiter
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellen der Digitalisierungsvorlage; Bilddigitalisierung

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Dieses Werk wurde auf der Grundlage der Transkription in Hamel, Jürgen u. Klaus Harro Tiemann (Hg.) (1993): Alexander von Humboldt: Über das Universum. Die Kosmosvorträge 1827/28 in der Berliner Singakademie. Frankfurt a. M.: Insel. anhand der Vorlage geprüft und korrigiert, nach XML/TEI P5 konvertiert und gemäß dem DTA-Basisformat kodiert.

Abweichungen dieser Druckedition von der Manuskriptvorlage werden im Text an der entsprechenden Stelle in editorischen Kommentaren ausgewiesen.

Abweichungen von den DTA-Richtlinien:

  • I/J: Lautwert transkribiert
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Zitationshilfe: [Kohlrausch, Henriette]: Physikalische Geographie. Vorgetragen von Alexander von Humboldt. [Berlin], [1828]. [= Nachschrift der ‚Kosmos-Vorträge‛ Alexander von Humboldts in der Sing-Akademie zu Berlin, 6.12.1827–27.3.1828.], S. 60r. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_msgermqu2124_1827/123>, abgerufen am 25.04.2024.