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Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.

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Angewandtes, lebendig gewordenes Christenthum war der
alte katholische Glaube, die letzte dieser Gestalten. Seine
Allgegenwart im Leben seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Hu¬
manität, die Unverbrüchlichkeit seiner Ehen, seine menschen¬
freundliche Mittheilsamkeit, seine Freude an der Armuth, Ge¬
horsam und Treue machen ihn als ächte Religion unverkenn¬
bar und enthalten die Grundzüge seiner Verfassung.

Die andern Welttheile warten auf Europas Versöhnung
und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des
Himmelreichs zu werden. Sollte es nicht in Europa bald eine
Menge wahrhaft heiliger Gemüther wieder geben, sollten nicht
alle wahrhafte Religionsverwandte voll Sehnsucht werden, den
Himmel auf Erden zu erblicken? und gern zusammentreten und
heilige Chöre anstimmen?

Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam wer¬
den, und sich wieder ein sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf
Landesgränzen bilden, die alle nach dem Ueberirdischen durstige
Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der
alten und neuen Welt wird.

Sie muß das alte Füllhorn des Seegens wieder über die
Völker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwürdi¬
gen europäischen Consiliums wird die Christenheit aufstehn,
und das Geschäft der Religionserweckung, nach einem allum¬
fassenden, göttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann
mehr protestiren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn
das Wesen der Kirche wird ächte Freiheit seyn, und alle nö¬
thigen Reformen werden unter der Leitung derselben, als fried¬
liche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden.

Wann und wann eher? darnach ist nicht zu fragen. Nur
Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen
Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt
seyn wird; und bis dahin seyd heiter und muthig in den Ge¬
fahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkündigt mit
Wort und That das göttliche Evangelium, und bleibt dem
wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.


Angewandtes, lebendig gewordenes Chriſtenthum war der
alte katholiſche Glaube, die letzte dieſer Geſtalten. Seine
Allgegenwart im Leben ſeine Liebe zur Kunſt, ſeine tiefe Hu¬
manitaͤt, die Unverbruͤchlichkeit ſeiner Ehen, ſeine menſchen¬
freundliche Mittheilſamkeit, ſeine Freude an der Armuth, Ge¬
horſam und Treue machen ihn als aͤchte Religion unverkenn¬
bar und enthalten die Grundzuͤge ſeiner Verfaſſung.

Die andern Welttheile warten auf Europas Verſoͤhnung
und Auferſtehung, um ſich anzuſchließen und Mitbuͤrger des
Himmelreichs zu werden. Sollte es nicht in Europa bald eine
Menge wahrhaft heiliger Gemuͤther wieder geben, ſollten nicht
alle wahrhafte Religionsverwandte voll Sehnſucht werden, den
Himmel auf Erden zu erblicken? und gern zuſammentreten und
heilige Choͤre anſtimmen?

Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam wer¬
den, und ſich wieder ein ſichtbare Kirche ohne Ruͤckſicht auf
Landesgraͤnzen bilden, die alle nach dem Ueberirdiſchen durſtige
Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der
alten und neuen Welt wird.

Sie muß das alte Fuͤllhorn des Seegens wieder uͤber die
Voͤlker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwuͤrdi¬
gen europaͤiſchen Conſiliums wird die Chriſtenheit aufſtehn,
und das Geſchaͤft der Religionserweckung, nach einem allum¬
faſſenden, goͤttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann
mehr proteſtiren gegen chriſtlichen und weltlichen Zwang, denn
das Weſen der Kirche wird aͤchte Freiheit ſeyn, und alle noͤ¬
thigen Reformen werden unter der Leitung derſelben, als fried¬
liche und foͤrmliche Staatsprozeſſe betrieben werden.

Wann und wann eher? darnach iſt nicht zu fragen. Nur
Geduld, ſie wird, ſie muß kommen die heilige Zeit des ewigen
Friedens, wo das neue Jeruſalem die Hauptſtadt der Welt
ſeyn wird; und bis dahin ſeyd heiter und muthig in den Ge¬
fahren der Zeit, Genoſſen meines Glaubens, verkuͤndigt mit
Wort und That das goͤttliche Evangelium, und bleibt dem
wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.


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[208/0030] Angewandtes, lebendig gewordenes Chriſtenthum war der alte katholiſche Glaube, die letzte dieſer Geſtalten. Seine Allgegenwart im Leben ſeine Liebe zur Kunſt, ſeine tiefe Hu¬ manitaͤt, die Unverbruͤchlichkeit ſeiner Ehen, ſeine menſchen¬ freundliche Mittheilſamkeit, ſeine Freude an der Armuth, Ge¬ horſam und Treue machen ihn als aͤchte Religion unverkenn¬ bar und enthalten die Grundzuͤge ſeiner Verfaſſung. Die andern Welttheile warten auf Europas Verſoͤhnung und Auferſtehung, um ſich anzuſchließen und Mitbuͤrger des Himmelreichs zu werden. Sollte es nicht in Europa bald eine Menge wahrhaft heiliger Gemuͤther wieder geben, ſollten nicht alle wahrhafte Religionsverwandte voll Sehnſucht werden, den Himmel auf Erden zu erblicken? und gern zuſammentreten und heilige Choͤre anſtimmen? Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam wer¬ den, und ſich wieder ein ſichtbare Kirche ohne Ruͤckſicht auf Landesgraͤnzen bilden, die alle nach dem Ueberirdiſchen durſtige Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird. Sie muß das alte Fuͤllhorn des Seegens wieder uͤber die Voͤlker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwuͤrdi¬ gen europaͤiſchen Conſiliums wird die Chriſtenheit aufſtehn, und das Geſchaͤft der Religionserweckung, nach einem allum¬ faſſenden, goͤttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr proteſtiren gegen chriſtlichen und weltlichen Zwang, denn das Weſen der Kirche wird aͤchte Freiheit ſeyn, und alle noͤ¬ thigen Reformen werden unter der Leitung derſelben, als fried¬ liche und foͤrmliche Staatsprozeſſe betrieben werden. Wann und wann eher? darnach iſt nicht zu fragen. Nur Geduld, ſie wird, ſie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jeruſalem die Hauptſtadt der Welt ſeyn wird; und bis dahin ſeyd heiter und muthig in den Ge¬ fahren der Zeit, Genoſſen meines Glaubens, verkuͤndigt mit Wort und That das goͤttliche Evangelium, und bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.

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Zitationshilfe: Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/30>, abgerufen am 24.04.2024.