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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Stellung des Menschen in der Schöpfung.
durch fortschreitende Entwicklung der Affen nie ein Mensch ent-
stehen kann, denn ihre Ausbildung ist nach anderen Zielen ge-
richtet, und je länger sie sich nach diesen bewegen, desto mehr
erweitern sich zwischen ihnen die Abstände. Gerade bei den nied-
rigsten, in ihrer Entwicklung gleichsam verzögerten Affenarten, bei
den Uistiti des östlichen Brasiliens behält das Knochengerüst des
Kopfes eine höhere Menschenähnlichkeit, als bei den menschen-
ähnlichen Arten 1). Es ist nur ein volksthümliches Missverständniss
gewesen, dass der Mensch nach dem Dogma der Artenwandelung
von einem der vier höchsten Affen abstammen solle. Weder
Darwin noch irgend einer seiner Anhänger haben jemals so etwas
behauptet, sondern vielmehr, dass die Vorfahren der Menschen sich
abzweigten von längst ausgestorbenen Arten der Katarrhinengruppe
im ersten oder frühesten Abschnitt der Tertiärzeit 2). Sollte diese
Vermuthung jemals von der Wissenschaft anerkannt werden, so
müssten Zwischenformen und Übergänge von jenen Affen der
eocänen Zeit zu den heutigen Menschen irgendwo entdeckt
werden. An dem Tage wo diess geschähe, wo die einzelnen
Glieder in der Kette des Gestaltenwechsels sichtbar vor uns lägen,
bliebe keinem denkenden Menschen ein Zweifel über den Vorgang
übrig. Bis dahin jedoch behält jede andere Hypothese die gleiche
Berechtigung und die bisherigen geologischen Funde gewähren noch
nicht die geringste Ermuthigung, dass jene Lücken früher oder
später ausgefüllt werden müssten.

Wir können diese Betrachtungen nicht schliessen, ohne einen
Vorwurf zurückzuweisen, der im Stillen sich vielleicht regen möchte,
als ob wir nämlich die Verstandesthätigkeiten des Menschen un-
beachtet lassen wollten. So mag denn sogleich wiederholt werden,
was bereits Darwin ausgesprochen hat, dass Gewissensregungen
verknüpft mit der Empfindung von Reue, dass Pflichtgefühle als
die bedeutungsvollsten Unterschiede uns vom Thiere trennen, dass
bei diesem letzteren keine Möglichkeit vorhanden ist zur Lösung
einer mathematischen Aufgabe noch bei ihm die Rede sein kann
von Bewunderung eines Naturgemäldes oder einer Kraftäusserung,
dass auch kein Nachdenken statthaben kann über eine Verkettung

1) Virchow, Menschen- und Affenschädel. Berlin 1870. S. 25--26.
2) Darwin, Ursprung des Menschen I, 171. Haeckel, Natürliche Schöpf-
ungsgeschichte. 2. Aufl. S. 574.

Stellung des Menschen in der Schöpfung.
durch fortschreitende Entwicklung der Affen nie ein Mensch ent-
stehen kann, denn ihre Ausbildung ist nach anderen Zielen ge-
richtet, und je länger sie sich nach diesen bewegen, desto mehr
erweitern sich zwischen ihnen die Abstände. Gerade bei den nied-
rigsten, in ihrer Entwicklung gleichsam verzögerten Affenarten, bei
den Uistiti des östlichen Brasiliens behält das Knochengerüst des
Kopfes eine höhere Menschenähnlichkeit, als bei den menschen-
ähnlichen Arten 1). Es ist nur ein volksthümliches Missverständniss
gewesen, dass der Mensch nach dem Dogma der Artenwandelung
von einem der vier höchsten Affen abstammen solle. Weder
Darwin noch irgend einer seiner Anhänger haben jemals so etwas
behauptet, sondern vielmehr, dass die Vorfahren der Menschen sich
abzweigten von längst ausgestorbenen Arten der Katarrhinengruppe
im ersten oder frühesten Abschnitt der Tertiärzeit 2). Sollte diese
Vermuthung jemals von der Wissenschaft anerkannt werden, so
müssten Zwischenformen und Übergänge von jenen Affen der
eocänen Zeit zu den heutigen Menschen irgendwo entdeckt
werden. An dem Tage wo diess geschähe, wo die einzelnen
Glieder in der Kette des Gestaltenwechsels sichtbar vor uns lägen,
bliebe keinem denkenden Menschen ein Zweifel über den Vorgang
übrig. Bis dahin jedoch behält jede andere Hypothese die gleiche
Berechtigung und die bisherigen geologischen Funde gewähren noch
nicht die geringste Ermuthigung, dass jene Lücken früher oder
später ausgefüllt werden müssten.

Wir können diese Betrachtungen nicht schliessen, ohne einen
Vorwurf zurückzuweisen, der im Stillen sich vielleicht regen möchte,
als ob wir nämlich die Verstandesthätigkeiten des Menschen un-
beachtet lassen wollten. So mag denn sogleich wiederholt werden,
was bereits Darwin ausgesprochen hat, dass Gewissensregungen
verknüpft mit der Empfindung von Reue, dass Pflichtgefühle als
die bedeutungsvollsten Unterschiede uns vom Thiere trennen, dass
bei diesem letzteren keine Möglichkeit vorhanden ist zur Lösung
einer mathematischen Aufgabe noch bei ihm die Rede sein kann
von Bewunderung eines Naturgemäldes oder einer Kraftäusserung,
dass auch kein Nachdenken statthaben kann über eine Verkettung

1) Virchow, Menschen- und Affenschädel. Berlin 1870. S. 25—26.
2) Darwin, Ursprung des Menschen I, 171. Haeckel, Natürliche Schöpf-
ungsgeschichte. 2. Aufl. S. 574.
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[5/0023] Stellung des Menschen in der Schöpfung. durch fortschreitende Entwicklung der Affen nie ein Mensch ent- stehen kann, denn ihre Ausbildung ist nach anderen Zielen ge- richtet, und je länger sie sich nach diesen bewegen, desto mehr erweitern sich zwischen ihnen die Abstände. Gerade bei den nied- rigsten, in ihrer Entwicklung gleichsam verzögerten Affenarten, bei den Uistiti des östlichen Brasiliens behält das Knochengerüst des Kopfes eine höhere Menschenähnlichkeit, als bei den menschen- ähnlichen Arten 1). Es ist nur ein volksthümliches Missverständniss gewesen, dass der Mensch nach dem Dogma der Artenwandelung von einem der vier höchsten Affen abstammen solle. Weder Darwin noch irgend einer seiner Anhänger haben jemals so etwas behauptet, sondern vielmehr, dass die Vorfahren der Menschen sich abzweigten von längst ausgestorbenen Arten der Katarrhinengruppe im ersten oder frühesten Abschnitt der Tertiärzeit 2). Sollte diese Vermuthung jemals von der Wissenschaft anerkannt werden, so müssten Zwischenformen und Übergänge von jenen Affen der eocänen Zeit zu den heutigen Menschen irgendwo entdeckt werden. An dem Tage wo diess geschähe, wo die einzelnen Glieder in der Kette des Gestaltenwechsels sichtbar vor uns lägen, bliebe keinem denkenden Menschen ein Zweifel über den Vorgang übrig. Bis dahin jedoch behält jede andere Hypothese die gleiche Berechtigung und die bisherigen geologischen Funde gewähren noch nicht die geringste Ermuthigung, dass jene Lücken früher oder später ausgefüllt werden müssten. Wir können diese Betrachtungen nicht schliessen, ohne einen Vorwurf zurückzuweisen, der im Stillen sich vielleicht regen möchte, als ob wir nämlich die Verstandesthätigkeiten des Menschen un- beachtet lassen wollten. So mag denn sogleich wiederholt werden, was bereits Darwin ausgesprochen hat, dass Gewissensregungen verknüpft mit der Empfindung von Reue, dass Pflichtgefühle als die bedeutungsvollsten Unterschiede uns vom Thiere trennen, dass bei diesem letzteren keine Möglichkeit vorhanden ist zur Lösung einer mathematischen Aufgabe noch bei ihm die Rede sein kann von Bewunderung eines Naturgemäldes oder einer Kraftäusserung, dass auch kein Nachdenken statthaben kann über eine Verkettung 1) Virchow, Menschen- und Affenschädel. Berlin 1870. S. 25—26. 2) Darwin, Ursprung des Menschen I, 171. Haeckel, Natürliche Schöpf- ungsgeschichte. 2. Aufl. S. 574.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/23>, abgerufen am 20.04.2024.