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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
europäischen Arten (Bos primigenius zu Cäsars Zeiten noch wild
und Bos longifrons oder brachyceros der schweizerischen Pfahl-
bauten) 1). So lange sie in der Freiheit neben einander vorkamen,
bewahrten sie ihre Artenmerkmale in aller Reinheit, während jetzt
durch Querkreuzungen ihre Gestalt und Tracht völlig sich ver-
mischt haben. Ja selbst mit dem Zebu (B. indicus) oder dem
indischen Buckelochsen kann das europäische Rind fruchtbare
Bastarde erzeugen. Ferner sind unsere Hausschweine Mischlinge
aus dem Eber oder Sus scrofa und dem nicht mehr wild vorkom-
menden Sus indica. Wir verdanken diesen Satz den Schädelunter-
suchungen des Herrn v. Nathusius, der sonst unter die erklärten
Gegner der Darwinischen Schule gehört. Gilt das letztere be-
kanntlich auch von Agassiz, so legen wir doppeltes Gewicht da-
rauf, dass auch er den Versuch, die fruchtbare Begattung zur
Artenbegrenzung zu benutzen für eine Irrlehre erklärt hat 2). Ist
diess der Fall, dann besteht kein Hinderniss länger etliche Men-
schenracen als verschiedne Menschenarten aufzufassen, wenn sich
bei ihnen erfüllt, was Grisebach für die Begründung einer Art noth-
wendig hält, nämlich der Mangel von Übergängen 3), die nicht auf
Kreuzungen beruhen. Wirklich lassen sich bisweilen scharfe Grenzen
ziehen wie zwischen den Hottentotten und den Kafirstämmen, den
Papuanen Neu-Guineas und den reinen Polynesiern. Solche That-
sachen haben die pluralistische Anthropologenschule zu der Be-
hauptung einer Mehrheit der Menschenarten ermuthigt. In den
Vereinigten Staaten Nordamerikas, wo sie vormals ihre heissesten
Vertreter fand, entstand die Lehre, dass die verschiednen Bewohner
der Erde in den Welttheilen geschaffen wurden, die sie jetzt be-
wohnen, auch dass sie nicht von einzelnen Elternpaaren abstammen,
sondern durch einen Saatwurf des Schöpfers sogleich in Horden

1) Rütimeyer gelangte zu dem Schlusse, dass die Rinder des Chillingham-
Parkes Abkömmlinge des gezähmten Ur (B. primigenius) seien, sowie dass
die Trochoceros- und Frontosus-Form ebenfalls vom Ur abstammen, dagegen
B. brachyceros eine eigne sogenannte Species vertrete. Art und Race des
europäischen Rindes im Archiv für Anthropologie. Bd. 1. Braunschweig
1866. S. 240--247.
2) A complete fallacy. Essai on Classification. London 1849. p. 250.
3) Die Vegetation der Erde Bd. 1. S. 8. "Darin besteht die Methode
des Systematikers Varietäten und Arten zu unterscheiden, dass er bei jenen
Zwischenformen nachweisen kann, bei diesen nicht."

Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
europäischen Arten (Bos primigenius zu Cäsars Zeiten noch wild
und Bos longifrons oder brachyceros der schweizerischen Pfahl-
bauten) 1). So lange sie in der Freiheit neben einander vorkamen,
bewahrten sie ihre Artenmerkmale in aller Reinheit, während jetzt
durch Querkreuzungen ihre Gestalt und Tracht völlig sich ver-
mischt haben. Ja selbst mit dem Zebu (B. indicus) oder dem
indischen Buckelochsen kann das europäische Rind fruchtbare
Bastarde erzeugen. Ferner sind unsere Hausschweine Mischlinge
aus dem Eber oder Sus scrofa und dem nicht mehr wild vorkom-
menden Sus indica. Wir verdanken diesen Satz den Schädelunter-
suchungen des Herrn v. Nathusius, der sonst unter die erklärten
Gegner der Darwinischen Schule gehört. Gilt das letztere be-
kanntlich auch von Agassiz, so legen wir doppeltes Gewicht da-
rauf, dass auch er den Versuch, die fruchtbare Begattung zur
Artenbegrenzung zu benutzen für eine Irrlehre erklärt hat 2). Ist
diess der Fall, dann besteht kein Hinderniss länger etliche Men-
schenracen als verschiedne Menschenarten aufzufassen, wenn sich
bei ihnen erfüllt, was Grisebach für die Begründung einer Art noth-
wendig hält, nämlich der Mangel von Übergängen 3), die nicht auf
Kreuzungen beruhen. Wirklich lassen sich bisweilen scharfe Grenzen
ziehen wie zwischen den Hottentotten und den Kafirstämmen, den
Papuanen Neu-Guineas und den reinen Polynesiern. Solche That-
sachen haben die pluralistische Anthropologenschule zu der Be-
hauptung einer Mehrheit der Menschenarten ermuthigt. In den
Vereinigten Staaten Nordamerikas, wo sie vormals ihre heissesten
Vertreter fand, entstand die Lehre, dass die verschiednen Bewohner
der Erde in den Welttheilen geschaffen wurden, die sie jetzt be-
wohnen, auch dass sie nicht von einzelnen Elternpaaren abstammen,
sondern durch einen Saatwurf des Schöpfers sogleich in Horden

1) Rütimeyer gelangte zu dem Schlusse, dass die Rinder des Chillingham-
Parkes Abkömmlinge des gezähmten Ur (B. primigenius) seien, sowie dass
die Trochoceros- und Frontosus-Form ebenfalls vom Ur abstammen, dagegen
B. brachyceros eine eigne sogenannte Species vertrete. Art und Race des
europäischen Rindes im Archiv für Anthropologie. Bd. 1. Braunschweig
1866. S. 240—247.
2) A complete fallacy. Essai on Classification. London 1849. p. 250.
3) Die Vegetation der Erde Bd. 1. S. 8. „Darin besteht die Methode
des Systematikers Varietäten und Arten zu unterscheiden, dass er bei jenen
Zwischenformen nachweisen kann, bei diesen nicht.“
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[12/0030] Arteneinheit des Menschengeschlechtes. europäischen Arten (Bos primigenius zu Cäsars Zeiten noch wild und Bos longifrons oder brachyceros der schweizerischen Pfahl- bauten) 1). So lange sie in der Freiheit neben einander vorkamen, bewahrten sie ihre Artenmerkmale in aller Reinheit, während jetzt durch Querkreuzungen ihre Gestalt und Tracht völlig sich ver- mischt haben. Ja selbst mit dem Zebu (B. indicus) oder dem indischen Buckelochsen kann das europäische Rind fruchtbare Bastarde erzeugen. Ferner sind unsere Hausschweine Mischlinge aus dem Eber oder Sus scrofa und dem nicht mehr wild vorkom- menden Sus indica. Wir verdanken diesen Satz den Schädelunter- suchungen des Herrn v. Nathusius, der sonst unter die erklärten Gegner der Darwinischen Schule gehört. Gilt das letztere be- kanntlich auch von Agassiz, so legen wir doppeltes Gewicht da- rauf, dass auch er den Versuch, die fruchtbare Begattung zur Artenbegrenzung zu benutzen für eine Irrlehre erklärt hat 2). Ist diess der Fall, dann besteht kein Hinderniss länger etliche Men- schenracen als verschiedne Menschenarten aufzufassen, wenn sich bei ihnen erfüllt, was Grisebach für die Begründung einer Art noth- wendig hält, nämlich der Mangel von Übergängen 3), die nicht auf Kreuzungen beruhen. Wirklich lassen sich bisweilen scharfe Grenzen ziehen wie zwischen den Hottentotten und den Kafirstämmen, den Papuanen Neu-Guineas und den reinen Polynesiern. Solche That- sachen haben die pluralistische Anthropologenschule zu der Be- hauptung einer Mehrheit der Menschenarten ermuthigt. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas, wo sie vormals ihre heissesten Vertreter fand, entstand die Lehre, dass die verschiednen Bewohner der Erde in den Welttheilen geschaffen wurden, die sie jetzt be- wohnen, auch dass sie nicht von einzelnen Elternpaaren abstammen, sondern durch einen Saatwurf des Schöpfers sogleich in Horden 1) Rütimeyer gelangte zu dem Schlusse, dass die Rinder des Chillingham- Parkes Abkömmlinge des gezähmten Ur (B. primigenius) seien, sowie dass die Trochoceros- und Frontosus-Form ebenfalls vom Ur abstammen, dagegen B. brachyceros eine eigne sogenannte Species vertrete. Art und Race des europäischen Rindes im Archiv für Anthropologie. Bd. 1. Braunschweig 1866. S. 240—247. 2) A complete fallacy. Essai on Classification. London 1849. p. 250. 3) Die Vegetation der Erde Bd. 1. S. 8. „Darin besteht die Methode des Systematikers Varietäten und Arten zu unterscheiden, dass er bei jenen Zwischenformen nachweisen kann, bei diesen nicht.“

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/30>, abgerufen am 23.04.2024.