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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
war keine willkürliche, sondern sie stellt eine morphologische Kette
dar; ein Ring hält hier den andern, jede Neuerung knüpft ge-
horsam dem Gesetze alles Werdens an das früher Bestehende an.

Es gibt vielleicht unter den Sachkundigen Europas nicht einen
einzigen, der nicht anerkennen würde, dass die jetzige Schöpfung
mit strenger Nothwendigkeit voraussetze, dass ihr eine tertiäre
vorausgegangen sei, denn auf das engste schliesst sich die Thier-
welt Australiens und Südamerikas, sowie andrer gegen Artenaus-
tausch gut gesicherter Erdräume, an die örtlich ausgestorbne
Fauna an. Bestände das Dogma Darwins daher nur in dem Satze,
dass die Reihenfolge der Arten mit der Vergangenheit durch irgend
eine Ursache verknüpft sei, so würden alle Geologen, Botaniker
und Zoologen zur Schule des grossen Briten gehören. Er begnügt
sich aber nicht mit diesem Ausspruch, sondern er glaubt den Vor-
gang selbst und seine Nothwendigkeit uns enthüllen zu können.
Nach seiner Lehre werden Eltern oder geschlechtliche Doppelwesen
alle ihre Merkmale bis auf kleine Verschiedenheiten vererben, so
dass die Nachkommen ihren Erzeugern zwar gleichen, aber auch
um einen verschwindend kleinen Betrag in einer nützlichen, gleich-
giltigen oder schädlichen Richtung sich von ihnen entfernen. Die
schädlichen Abirrungen würden zum frühen Untergange ihres Trä-
gers führen, die gleichgiltigen hätten wiederum keine Aussicht auf
dauernde Erhaltung, die nützlichen allein sollen die Umgestaltung
der Geschöpfe bewirken. Durch eine fortgesetzte Anhäufung kann
aber das verschwindend Kleine in achtunggebietenden Zeiträumen
allmählich bis zum Artenunterschiede heranwachsen. Bei dieser Aus-
bildung neuer Formen übt die Schöpfung zugleich eine Art Kritik
unbewusst gegen sich aus, denn da jedes Einzelwesen oder jedes
Elternpaar weit mehr Nachkommen zu erzeugen pflegt, als auf
Erden gedeihen können 1), so entspinnt sich zwischen den Nach-
kommen einer Art, wie zwischen allen Vertretern der verschiednen
Arten ein Kampf um das Dasein, in welchem die lebensfähigeren
Streiter die minder günstig ausgestatteten unterdrücken. Durch

1) So bemerkte kürzlich Dr. Borggreve, Prof. an der Forstakademie zu
Münden, dass eine Birke von etwa 0,3 Meter Stammesdurchmesser in einem Jahre
über 30 Millionen Samenkörner ausstreut, die bei trocknen Herbststürmen bis
auf jede in Deutschland vertretne Entfernung verweht werden könnten. Ab-
handlungen des naturwissenschaftlichen Vereines zu Bremen. 3. Bd. 2. Heft.
Bremen 1872. S. 223.

Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
war keine willkürliche, sondern sie stellt eine morphologische Kette
dar; ein Ring hält hier den andern, jede Neuerung knüpft ge-
horsam dem Gesetze alles Werdens an das früher Bestehende an.

Es gibt vielleicht unter den Sachkundigen Europas nicht einen
einzigen, der nicht anerkennen würde, dass die jetzige Schöpfung
mit strenger Nothwendigkeit voraussetze, dass ihr eine tertiäre
vorausgegangen sei, denn auf das engste schliesst sich die Thier-
welt Australiens und Südamerikas, sowie andrer gegen Artenaus-
tausch gut gesicherter Erdräume, an die örtlich ausgestorbne
Fauna an. Bestände das Dogma Darwins daher nur in dem Satze,
dass die Reihenfolge der Arten mit der Vergangenheit durch irgend
eine Ursache verknüpft sei, so würden alle Geologen, Botaniker
und Zoologen zur Schule des grossen Briten gehören. Er begnügt
sich aber nicht mit diesem Ausspruch, sondern er glaubt den Vor-
gang selbst und seine Nothwendigkeit uns enthüllen zu können.
Nach seiner Lehre werden Eltern oder geschlechtliche Doppelwesen
alle ihre Merkmale bis auf kleine Verschiedenheiten vererben, so
dass die Nachkommen ihren Erzeugern zwar gleichen, aber auch
um einen verschwindend kleinen Betrag in einer nützlichen, gleich-
giltigen oder schädlichen Richtung sich von ihnen entfernen. Die
schädlichen Abirrungen würden zum frühen Untergange ihres Trä-
gers führen, die gleichgiltigen hätten wiederum keine Aussicht auf
dauernde Erhaltung, die nützlichen allein sollen die Umgestaltung
der Geschöpfe bewirken. Durch eine fortgesetzte Anhäufung kann
aber das verschwindend Kleine in achtunggebietenden Zeiträumen
allmählich bis zum Artenunterschiede heranwachsen. Bei dieser Aus-
bildung neuer Formen übt die Schöpfung zugleich eine Art Kritik
unbewusst gegen sich aus, denn da jedes Einzelwesen oder jedes
Elternpaar weit mehr Nachkommen zu erzeugen pflegt, als auf
Erden gedeihen können 1), so entspinnt sich zwischen den Nach-
kommen einer Art, wie zwischen allen Vertretern der verschiednen
Arten ein Kampf um das Dasein, in welchem die lebensfähigeren
Streiter die minder günstig ausgestatteten unterdrücken. Durch

1) So bemerkte kürzlich Dr. Borggreve, Prof. an der Forstakademie zu
Münden, dass eine Birke von etwa 0,3 Meter Stammesdurchmesser in einem Jahre
über 30 Millionen Samenkörner ausstreut, die bei trocknen Herbststürmen bis
auf jede in Deutschland vertretne Entfernung verweht werden könnten. Ab-
handlungen des naturwissenschaftlichen Vereines zu Bremen. 3. Bd. 2. Heft.
Bremen 1872. S. 223.
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[16/0034] Arteneinheit des Menschengeschlechtes. war keine willkürliche, sondern sie stellt eine morphologische Kette dar; ein Ring hält hier den andern, jede Neuerung knüpft ge- horsam dem Gesetze alles Werdens an das früher Bestehende an. Es gibt vielleicht unter den Sachkundigen Europas nicht einen einzigen, der nicht anerkennen würde, dass die jetzige Schöpfung mit strenger Nothwendigkeit voraussetze, dass ihr eine tertiäre vorausgegangen sei, denn auf das engste schliesst sich die Thier- welt Australiens und Südamerikas, sowie andrer gegen Artenaus- tausch gut gesicherter Erdräume, an die örtlich ausgestorbne Fauna an. Bestände das Dogma Darwins daher nur in dem Satze, dass die Reihenfolge der Arten mit der Vergangenheit durch irgend eine Ursache verknüpft sei, so würden alle Geologen, Botaniker und Zoologen zur Schule des grossen Briten gehören. Er begnügt sich aber nicht mit diesem Ausspruch, sondern er glaubt den Vor- gang selbst und seine Nothwendigkeit uns enthüllen zu können. Nach seiner Lehre werden Eltern oder geschlechtliche Doppelwesen alle ihre Merkmale bis auf kleine Verschiedenheiten vererben, so dass die Nachkommen ihren Erzeugern zwar gleichen, aber auch um einen verschwindend kleinen Betrag in einer nützlichen, gleich- giltigen oder schädlichen Richtung sich von ihnen entfernen. Die schädlichen Abirrungen würden zum frühen Untergange ihres Trä- gers führen, die gleichgiltigen hätten wiederum keine Aussicht auf dauernde Erhaltung, die nützlichen allein sollen die Umgestaltung der Geschöpfe bewirken. Durch eine fortgesetzte Anhäufung kann aber das verschwindend Kleine in achtunggebietenden Zeiträumen allmählich bis zum Artenunterschiede heranwachsen. Bei dieser Aus- bildung neuer Formen übt die Schöpfung zugleich eine Art Kritik unbewusst gegen sich aus, denn da jedes Einzelwesen oder jedes Elternpaar weit mehr Nachkommen zu erzeugen pflegt, als auf Erden gedeihen können 1), so entspinnt sich zwischen den Nach- kommen einer Art, wie zwischen allen Vertretern der verschiednen Arten ein Kampf um das Dasein, in welchem die lebensfähigeren Streiter die minder günstig ausgestatteten unterdrücken. Durch 1) So bemerkte kürzlich Dr. Borggreve, Prof. an der Forstakademie zu Münden, dass eine Birke von etwa 0,3 Meter Stammesdurchmesser in einem Jahre über 30 Millionen Samenkörner ausstreut, die bei trocknen Herbststürmen bis auf jede in Deutschland vertretne Entfernung verweht werden könnten. Ab- handlungen des naturwissenschaftlichen Vereines zu Bremen. 3. Bd. 2. Heft. Bremen 1872. S. 223.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/34>, abgerufen am 18.04.2024.