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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Das Alter des Menschengeschlechtes.
über das mittlere Frankreich ansehnliche Veränderungen des Klimas
vorauszusetzen, denn selbst wer sich sträuben wollte in Cäsars Be-
schreibung 1) des Rheno den Cervus tarandus wieder zu erkennen 2),
der wird doch eingestehen müssen, dass das Ren nicht streng unter die
Polarthiere gehöre, da das Caribu, sein Vertreter in Amerika zur
Zeit der ersten Besiedelung an den Ostküsten der Vereinigten
Staaten noch unter dem 43. Breitegrade, also unter dem Parallel
von Toulon angetroffen, bei dem Begegnen mit den Europäern aber
rasch nach dem hohen Norden verscheucht wurde. Obendrein
sind in einer belgischen Höhle (Frontal) neben dem Ren auch
Knochen des Schafes und der Ziege gefunden worden, so dass die
dortigen Höhlenmenschen friedliche Hirten gewesen sein müssen 3).
Das Verschwinden der Höhlenfauna in Europa, die theils aus schäd-
lichen Raubthieren, theils aus grossen Dickhäutern bestand, welche
letztere örtlich immer nur durch eine spärliche Zahl von Einzel-
wesen vertreten sind, könnte sich in vergleichsweise rascher Zeit
vollzogen haben, sobald nur unser Welttheil dichter besiedelt wurde
und die Bewohner wirksamere Waffen mit grösserem Jagdgeschick
vereinigten. Das jähe Verschwinden vieler Thierarten innerhalb der
letzten Jahrhunderte, wie des flügellosen Alk aus Nordeuropa, der
Steller'schen Seekuh im Beringsmeer, der Dronte auf Mauritius, der
Moaarten auf Neu-Seeland entmuthigt uns für das Verschwinden
der Diluvialarten hohe Zeiträume zu begehren.

Glücklicherweise besitzen wir aber Wahrzeichen, dass das
schwäbische Land bereits bewohnt wurde zur Zeit, wo mächtige
Gletscher das Reinthal und den Bodensee ausfüllten. Unweit der
alten Abtei Schussenried wurde im Sommer 1866 bei Erdarbeiten
an der Quelle der Schussen, eines bescheidnen Gewässers, das un-
weit Langenargen in den Bodensee fällt, eine ungestörte Boden-
schicht aufgedeckt, in welcher sich bearbeitete Rengeweihe, Pfriemen
mit ausgeschlitztem Oehr, eine hölzerne glattgeschabte Nadel, Haken
zum Angeln, lanzett- und sägeblattförmige Feuersteine, rothe
Farbenknollen zur Hautmalerei, Asche und Kohlenreste vereinigt

1) De Bello Gall. VI, 21 u. 26.
2) Herr Charles Gard spricht in seinen "Skizzen aus dem Elsass"
(Ausland 1872 S. 1216) sehr zuversichtlich aus, dass das Ren auf den Inseln
im Rhein noch bis zur Regierung des Augustus sein Dasein gefristet habe.
3) O. Fraas im Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1872. Bd. 5.
S. 480.

Das Alter des Menschengeschlechtes.
über das mittlere Frankreich ansehnliche Veränderungen des Klimas
vorauszusetzen, denn selbst wer sich sträuben wollte in Cäsars Be-
schreibung 1) des Rheno den Cervus tarandus wieder zu erkennen 2),
der wird doch eingestehen müssen, dass das Ren nicht streng unter die
Polarthiere gehöre, da das Caribu, sein Vertreter in Amerika zur
Zeit der ersten Besiedelung an den Ostküsten der Vereinigten
Staaten noch unter dem 43. Breitegrade, also unter dem Parallel
von Toulon angetroffen, bei dem Begegnen mit den Europäern aber
rasch nach dem hohen Norden verscheucht wurde. Obendrein
sind in einer belgischen Höhle (Frontal) neben dem Ren auch
Knochen des Schafes und der Ziege gefunden worden, so dass die
dortigen Höhlenmenschen friedliche Hirten gewesen sein müssen 3).
Das Verschwinden der Höhlenfauna in Europa, die theils aus schäd-
lichen Raubthieren, theils aus grossen Dickhäutern bestand, welche
letztere örtlich immer nur durch eine spärliche Zahl von Einzel-
wesen vertreten sind, könnte sich in vergleichsweise rascher Zeit
vollzogen haben, sobald nur unser Welttheil dichter besiedelt wurde
und die Bewohner wirksamere Waffen mit grösserem Jagdgeschick
vereinigten. Das jähe Verschwinden vieler Thierarten innerhalb der
letzten Jahrhunderte, wie des flügellosen Alk aus Nordeuropa, der
Steller’schen Seekuh im Beringsmeer, der Dronte auf Mauritius, der
Moaarten auf Neu-Seeland entmuthigt uns für das Verschwinden
der Diluvialarten hohe Zeiträume zu begehren.

Glücklicherweise besitzen wir aber Wahrzeichen, dass das
schwäbische Land bereits bewohnt wurde zur Zeit, wo mächtige
Gletscher das Reinthal und den Bodensee ausfüllten. Unweit der
alten Abtei Schussenried wurde im Sommer 1866 bei Erdarbeiten
an der Quelle der Schussen, eines bescheidnen Gewässers, das un-
weit Langenargen in den Bodensee fällt, eine ungestörte Boden-
schicht aufgedeckt, in welcher sich bearbeitete Rengeweihe, Pfriemen
mit ausgeschlitztem Oehr, eine hölzerne glattgeschabte Nadel, Haken
zum Angeln, lanzett- und sägeblattförmige Feuersteine, rothe
Farbenknollen zur Hautmalerei, Asche und Kohlenreste vereinigt

1) De Bello Gall. VI, 21 u. 26.
2) Herr Charles Gard spricht in seinen „Skizzen aus dem Elsass“
(Ausland 1872 S. 1216) sehr zuversichtlich aus, dass das Ren auf den Inseln
im Rhein noch bis zur Regierung des Augustus sein Dasein gefristet habe.
3) O. Fraas im Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1872. Bd. 5.
S. 480.
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[42/0060] Das Alter des Menschengeschlechtes. über das mittlere Frankreich ansehnliche Veränderungen des Klimas vorauszusetzen, denn selbst wer sich sträuben wollte in Cäsars Be- schreibung 1) des Rheno den Cervus tarandus wieder zu erkennen 2), der wird doch eingestehen müssen, dass das Ren nicht streng unter die Polarthiere gehöre, da das Caribu, sein Vertreter in Amerika zur Zeit der ersten Besiedelung an den Ostküsten der Vereinigten Staaten noch unter dem 43. Breitegrade, also unter dem Parallel von Toulon angetroffen, bei dem Begegnen mit den Europäern aber rasch nach dem hohen Norden verscheucht wurde. Obendrein sind in einer belgischen Höhle (Frontal) neben dem Ren auch Knochen des Schafes und der Ziege gefunden worden, so dass die dortigen Höhlenmenschen friedliche Hirten gewesen sein müssen 3). Das Verschwinden der Höhlenfauna in Europa, die theils aus schäd- lichen Raubthieren, theils aus grossen Dickhäutern bestand, welche letztere örtlich immer nur durch eine spärliche Zahl von Einzel- wesen vertreten sind, könnte sich in vergleichsweise rascher Zeit vollzogen haben, sobald nur unser Welttheil dichter besiedelt wurde und die Bewohner wirksamere Waffen mit grösserem Jagdgeschick vereinigten. Das jähe Verschwinden vieler Thierarten innerhalb der letzten Jahrhunderte, wie des flügellosen Alk aus Nordeuropa, der Steller’schen Seekuh im Beringsmeer, der Dronte auf Mauritius, der Moaarten auf Neu-Seeland entmuthigt uns für das Verschwinden der Diluvialarten hohe Zeiträume zu begehren. Glücklicherweise besitzen wir aber Wahrzeichen, dass das schwäbische Land bereits bewohnt wurde zur Zeit, wo mächtige Gletscher das Reinthal und den Bodensee ausfüllten. Unweit der alten Abtei Schussenried wurde im Sommer 1866 bei Erdarbeiten an der Quelle der Schussen, eines bescheidnen Gewässers, das un- weit Langenargen in den Bodensee fällt, eine ungestörte Boden- schicht aufgedeckt, in welcher sich bearbeitete Rengeweihe, Pfriemen mit ausgeschlitztem Oehr, eine hölzerne glattgeschabte Nadel, Haken zum Angeln, lanzett- und sägeblattförmige Feuersteine, rothe Farbenknollen zur Hautmalerei, Asche und Kohlenreste vereinigt 1) De Bello Gall. VI, 21 u. 26. 2) Herr Charles Gard spricht in seinen „Skizzen aus dem Elsass“ (Ausland 1872 S. 1216) sehr zuversichtlich aus, dass das Ren auf den Inseln im Rhein noch bis zur Regierung des Augustus sein Dasein gefristet habe. 3) O. Fraas im Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1872. Bd. 5. S. 480.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/60>, abgerufen am 25.04.2024.