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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die Grössenverhältnisse des Gehirnschädels.
typus betrachten dürfen. Die Messungsergebnisse nöthigen uns
vielmehr als Thatsache anzuerkennen, dass die Grössenverhältnisse
der Schädel innerhalb der nämlichen Race beträchtlich schwanken.
Als begründet gilt jetzt, dass sämmtliche Polynesier über die Südsee
nach drei Himmelsrichtungen von der Samoa- oder Navigatoren-
gruppe sich verbreitet haben. Diese Wanderungen begannen min-
destens schon vor 3000 Jahren. Die Samoaner selbst sind frei-
geblieben von jeder fremden Mischung, und die Inseln, welche die
Auswanderer aufsuchten, waren völlig unbewohnt. Hier liegen also
Thatsachen vor, die als anthropologisches Experiment nicht gün-
stiger hätten angeordnet werden können. Hier können wir durch
Messungen streng ermitteln, welche Aenderungen in den Schädel-
proportionen im Laufe von 3000 Jahren durch Auswanderung und
Isolirung vor sich gegangen sind. Wohl haben wir bereits aus
Welckers Messungsergebnissen einiges mitgetheilt. Die Anzahl der
Schädel aber, die ihm zur Verfügung stand, ist doch nicht ausreichend
zur Feststellung guter Mittelwerthe, auch fehlen von den beiden wichtig-
sten Inselgruppen die Indices. Am wichtigsten wären nämlich sa-
moaner- sowie tonganer Schädel, weil sie die Originalmaasse des
polynesischen Typus vertreten könnten, dann aber die Schädel aus
Paumotu oder von der Wolke der niedrigen Inseln. Die letztere
Korallenkette war nämlich ein höchst ungünstiger Lebensraum, so
dass auf ihren Atollen der polynesische Menschenschlag von seiner
gesellschaftlichen Höhe zur Zeit der Auswanderung beträchtlich
abwärts steigen musste. Man wird daher die Spannung begreiflich
finden, mit der Anthropologen Schädelsendungen und Schädel-
messungen in Bezug auf Paumotuaner entgegensehen. Barnard Davis,
der über eine grössere Zahl polynesischer Schädel verfügte, ist zu ähn-
lichen Ergebnissen wenn auch minder grossen Schwankungen gelangt.
Auch bei ihm neigen die Maori mit einem Index von 75 am
meisten zur Dolichocephalie, während die Javanen (Index : 82)
noch brachycephaler erscheinen als die Maduresen (81).

Die Erfahrungen im eigenen Vaterland endlich sind höchst
eigenthümlicher Art gewesen, bestätigten aber was wir über das
Verhalten in der malayischen Menschenrace schon angeführt haben.
Retzius zählte die Deutschen noch unter die Schmalschädel, wenn
er auch später sich überzeugte, dass in Süddeutschland andere
Grössenverhältnisse die Oberhand hätten. Er war zu seiner An-
schauung gelangt, weil er hauptsächlich die nördlichen Vertreter

Die Grössenverhältnisse des Gehirnschädels.
typus betrachten dürfen. Die Messungsergebnisse nöthigen uns
vielmehr als Thatsache anzuerkennen, dass die Grössenverhältnisse
der Schädel innerhalb der nämlichen Race beträchtlich schwanken.
Als begründet gilt jetzt, dass sämmtliche Polynesier über die Südsee
nach drei Himmelsrichtungen von der Samoa- oder Navigatoren-
gruppe sich verbreitet haben. Diese Wanderungen begannen min-
destens schon vor 3000 Jahren. Die Samoaner selbst sind frei-
geblieben von jeder fremden Mischung, und die Inseln, welche die
Auswanderer aufsuchten, waren völlig unbewohnt. Hier liegen also
Thatsachen vor, die als anthropologisches Experiment nicht gün-
stiger hätten angeordnet werden können. Hier können wir durch
Messungen streng ermitteln, welche Aenderungen in den Schädel-
proportionen im Laufe von 3000 Jahren durch Auswanderung und
Isolirung vor sich gegangen sind. Wohl haben wir bereits aus
Welckers Messungsergebnissen einiges mitgetheilt. Die Anzahl der
Schädel aber, die ihm zur Verfügung stand, ist doch nicht ausreichend
zur Feststellung guter Mittelwerthe, auch fehlen von den beiden wichtig-
sten Inselgruppen die Indices. Am wichtigsten wären nämlich sa-
moaner- sowie tonganer Schädel, weil sie die Originalmaasse des
polynesischen Typus vertreten könnten, dann aber die Schädel aus
Paumotu oder von der Wolke der niedrigen Inseln. Die letztere
Korallenkette war nämlich ein höchst ungünstiger Lebensraum, so
dass auf ihren Atollen der polynesische Menschenschlag von seiner
gesellschaftlichen Höhe zur Zeit der Auswanderung beträchtlich
abwärts steigen musste. Man wird daher die Spannung begreiflich
finden, mit der Anthropologen Schädelsendungen und Schädel-
messungen in Bezug auf Paumotuaner entgegensehen. Barnard Davis,
der über eine grössere Zahl polynesischer Schädel verfügte, ist zu ähn-
lichen Ergebnissen wenn auch minder grossen Schwankungen gelangt.
Auch bei ihm neigen die Maori mit einem Index von 75 am
meisten zur Dolichocephalie, während die Javanen (Index : 82)
noch brachycephaler erscheinen als die Maduresen (81).

Die Erfahrungen im eigenen Vaterland endlich sind höchst
eigenthümlicher Art gewesen, bestätigten aber was wir über das
Verhalten in der malayischen Menschenrace schon angeführt haben.
Retzius zählte die Deutschen noch unter die Schmalschädel, wenn
er auch später sich überzeugte, dass in Süddeutschland andere
Grössenverhältnisse die Oberhand hätten. Er war zu seiner An-
schauung gelangt, weil er hauptsächlich die nördlichen Vertreter

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[58/0076] Die Grössenverhältnisse des Gehirnschädels. typus betrachten dürfen. Die Messungsergebnisse nöthigen uns vielmehr als Thatsache anzuerkennen, dass die Grössenverhältnisse der Schädel innerhalb der nämlichen Race beträchtlich schwanken. Als begründet gilt jetzt, dass sämmtliche Polynesier über die Südsee nach drei Himmelsrichtungen von der Samoa- oder Navigatoren- gruppe sich verbreitet haben. Diese Wanderungen begannen min- destens schon vor 3000 Jahren. Die Samoaner selbst sind frei- geblieben von jeder fremden Mischung, und die Inseln, welche die Auswanderer aufsuchten, waren völlig unbewohnt. Hier liegen also Thatsachen vor, die als anthropologisches Experiment nicht gün- stiger hätten angeordnet werden können. Hier können wir durch Messungen streng ermitteln, welche Aenderungen in den Schädel- proportionen im Laufe von 3000 Jahren durch Auswanderung und Isolirung vor sich gegangen sind. Wohl haben wir bereits aus Welckers Messungsergebnissen einiges mitgetheilt. Die Anzahl der Schädel aber, die ihm zur Verfügung stand, ist doch nicht ausreichend zur Feststellung guter Mittelwerthe, auch fehlen von den beiden wichtig- sten Inselgruppen die Indices. Am wichtigsten wären nämlich sa- moaner- sowie tonganer Schädel, weil sie die Originalmaasse des polynesischen Typus vertreten könnten, dann aber die Schädel aus Paumotu oder von der Wolke der niedrigen Inseln. Die letztere Korallenkette war nämlich ein höchst ungünstiger Lebensraum, so dass auf ihren Atollen der polynesische Menschenschlag von seiner gesellschaftlichen Höhe zur Zeit der Auswanderung beträchtlich abwärts steigen musste. Man wird daher die Spannung begreiflich finden, mit der Anthropologen Schädelsendungen und Schädel- messungen in Bezug auf Paumotuaner entgegensehen. Barnard Davis, der über eine grössere Zahl polynesischer Schädel verfügte, ist zu ähn- lichen Ergebnissen wenn auch minder grossen Schwankungen gelangt. Auch bei ihm neigen die Maori mit einem Index von 75 am meisten zur Dolichocephalie, während die Javanen (Index : 82) noch brachycephaler erscheinen als die Maduresen (81). Die Erfahrungen im eigenen Vaterland endlich sind höchst eigenthümlicher Art gewesen, bestätigten aber was wir über das Verhalten in der malayischen Menschenrace schon angeführt haben. Retzius zählte die Deutschen noch unter die Schmalschädel, wenn er auch später sich überzeugte, dass in Süddeutschland andere Grössenverhältnisse die Oberhand hätten. Er war zu seiner An- schauung gelangt, weil er hauptsächlich die nördlichen Vertreter

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/76>, abgerufen am 29.03.2024.