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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Der Gesichtsschädel.
wenig heben müsse 1). Bei einem solchen Verfahren verliess sich der
Untersuchende auf sein künstlerisches Gefühl, das aber zeitenweise
wechseln kann. Es ist einem Anatomen begegnet, der sich auf
diesen schlüpfrigen Pfad wagte, dass Messungen an denselben
Schädeln, die er nach drei Jahren wiederholte, Unterschiede ergaben,
die über 50 Procent stiegen, wie H. v. Ihering nachgewiesen hat 2).
Solche Winkel lassen sich übrigens nur bestimmen auf gezeichneten
Schädelumrissen. In Folge dessen ist die Wissenschaft wenigstens
mit dem Verfahren der sogenannten geometrischen, vielleicht rich-
tiger orthographischen Projection des Schädels bereichert worden.
Lucae, ihr Erfinder, gibt nämlich auf einer festen Unterlage dem
Schädel die erforderliche Stellung. Parallel mit der Unterlage ruht
über dem Schädel eine Glasplatte, auf welcher ein dioptrisches
Instrument mit einem Fadenkreuz dermassen fortbewegt wird, dass
seine optische Axe stets die Umrisse des Schädels berührt. Dem
Kreuzungspunkt der Fäden folgt dann auf der Glasplatte eine
Feder, um den durchlaufenen Weg mit Tinte einzutragen 3). Auf
diese Weise erhalten wir ein Bild des Schädels, wie er von uns
aus unendlicher Ferne gesehen werden würde, etwa wie dies an-
nähernd bei unserem Monde von der Erde aus der Fall ist und
solche Gemälde sind nicht blos befreit von allen Mängeln des
perspectivischen Sehens, sondern sie verstatten auch, Maasse mit
dem Cirkel zu nehmen.

Noch weniger Einklang wie bei den Grössenbestimmungen
der Gehirnkapsel, herrscht bei den Winkelmessungen am Gesichts-
schädel. Ein jeder Anatom betrat seinen eignen neuen Weg ohne
Rücksicht auf seine Vorgänger, ja gebrauchte sehr oft dieselben
Benennungen für Winkel, die ein andrer früher an andern Punkten
gesucht hatte. Die Ergebnisse der verschiedenen Messungsarten
lassen sich also nicht unter einander vergleichen und der folternde
Anblick dieses lichtlosen Reiches von Widersprüchen hat der
Craniologie eine vielleicht nicht gänzlich unverdiente Missachtung
zugezogen, denn oft genug war es weniger das Bestreben, der
Völkerkunde brauchbare Zahlenausdrücke zu liefern, als vielmehr

1) Lucae, Morphologie der Racenschädel. 1861. Heft 1. S. 42. Heft 2.
(1864.) S. 31.
2) Archiv für Anthropologie. Bd. 5. Braunschweig 1872. S. 396.
3) Morphologie der Racenschädel. Heft 1. S. 10--11.

Der Gesichtsschädel.
wenig heben müsse 1). Bei einem solchen Verfahren verliess sich der
Untersuchende auf sein künstlerisches Gefühl, das aber zeitenweise
wechseln kann. Es ist einem Anatomen begegnet, der sich auf
diesen schlüpfrigen Pfad wagte, dass Messungen an denselben
Schädeln, die er nach drei Jahren wiederholte, Unterschiede ergaben,
die über 50 Procent stiegen, wie H. v. Ihering nachgewiesen hat 2).
Solche Winkel lassen sich übrigens nur bestimmen auf gezeichneten
Schädelumrissen. In Folge dessen ist die Wissenschaft wenigstens
mit dem Verfahren der sogenannten geometrischen, vielleicht rich-
tiger orthographischen Projection des Schädels bereichert worden.
Lucae, ihr Erfinder, gibt nämlich auf einer festen Unterlage dem
Schädel die erforderliche Stellung. Parallel mit der Unterlage ruht
über dem Schädel eine Glasplatte, auf welcher ein dioptrisches
Instrument mit einem Fadenkreuz dermassen fortbewegt wird, dass
seine optische Axe stets die Umrisse des Schädels berührt. Dem
Kreuzungspunkt der Fäden folgt dann auf der Glasplatte eine
Feder, um den durchlaufenen Weg mit Tinte einzutragen 3). Auf
diese Weise erhalten wir ein Bild des Schädels, wie er von uns
aus unendlicher Ferne gesehen werden würde, etwa wie dies an-
nähernd bei unserem Monde von der Erde aus der Fall ist und
solche Gemälde sind nicht blos befreit von allen Mängeln des
perspectivischen Sehens, sondern sie verstatten auch, Maasse mit
dem Cirkel zu nehmen.

Noch weniger Einklang wie bei den Grössenbestimmungen
der Gehirnkapsel, herrscht bei den Winkelmessungen am Gesichts-
schädel. Ein jeder Anatom betrat seinen eignen neuen Weg ohne
Rücksicht auf seine Vorgänger, ja gebrauchte sehr oft dieselben
Benennungen für Winkel, die ein andrer früher an andern Punkten
gesucht hatte. Die Ergebnisse der verschiedenen Messungsarten
lassen sich also nicht unter einander vergleichen und der folternde
Anblick dieses lichtlosen Reiches von Widersprüchen hat der
Craniologie eine vielleicht nicht gänzlich unverdiente Missachtung
zugezogen, denn oft genug war es weniger das Bestreben, der
Völkerkunde brauchbare Zahlenausdrücke zu liefern, als vielmehr

1) Lucae, Morphologie der Racenschädel. 1861. Heft 1. S. 42. Heft 2.
(1864.) S. 31.
2) Archiv für Anthropologie. Bd. 5. Braunschweig 1872. S. 396.
3) Morphologie der Racenschädel. Heft 1. S. 10—11.
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[75/0093] Der Gesichtsschädel. wenig heben müsse 1). Bei einem solchen Verfahren verliess sich der Untersuchende auf sein künstlerisches Gefühl, das aber zeitenweise wechseln kann. Es ist einem Anatomen begegnet, der sich auf diesen schlüpfrigen Pfad wagte, dass Messungen an denselben Schädeln, die er nach drei Jahren wiederholte, Unterschiede ergaben, die über 50 Procent stiegen, wie H. v. Ihering nachgewiesen hat 2). Solche Winkel lassen sich übrigens nur bestimmen auf gezeichneten Schädelumrissen. In Folge dessen ist die Wissenschaft wenigstens mit dem Verfahren der sogenannten geometrischen, vielleicht rich- tiger orthographischen Projection des Schädels bereichert worden. Lucae, ihr Erfinder, gibt nämlich auf einer festen Unterlage dem Schädel die erforderliche Stellung. Parallel mit der Unterlage ruht über dem Schädel eine Glasplatte, auf welcher ein dioptrisches Instrument mit einem Fadenkreuz dermassen fortbewegt wird, dass seine optische Axe stets die Umrisse des Schädels berührt. Dem Kreuzungspunkt der Fäden folgt dann auf der Glasplatte eine Feder, um den durchlaufenen Weg mit Tinte einzutragen 3). Auf diese Weise erhalten wir ein Bild des Schädels, wie er von uns aus unendlicher Ferne gesehen werden würde, etwa wie dies an- nähernd bei unserem Monde von der Erde aus der Fall ist und solche Gemälde sind nicht blos befreit von allen Mängeln des perspectivischen Sehens, sondern sie verstatten auch, Maasse mit dem Cirkel zu nehmen. Noch weniger Einklang wie bei den Grössenbestimmungen der Gehirnkapsel, herrscht bei den Winkelmessungen am Gesichts- schädel. Ein jeder Anatom betrat seinen eignen neuen Weg ohne Rücksicht auf seine Vorgänger, ja gebrauchte sehr oft dieselben Benennungen für Winkel, die ein andrer früher an andern Punkten gesucht hatte. Die Ergebnisse der verschiedenen Messungsarten lassen sich also nicht unter einander vergleichen und der folternde Anblick dieses lichtlosen Reiches von Widersprüchen hat der Craniologie eine vielleicht nicht gänzlich unverdiente Missachtung zugezogen, denn oft genug war es weniger das Bestreben, der Völkerkunde brauchbare Zahlenausdrücke zu liefern, als vielmehr 1) Lucae, Morphologie der Racenschädel. 1861. Heft 1. S. 42. Heft 2. (1864.) S. 31. 2) Archiv für Anthropologie. Bd. 5. Braunschweig 1872. S. 396. 3) Morphologie der Racenschädel. Heft 1. S. 10—11.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/93>, abgerufen am 20.04.2024.