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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830.

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Vier und vierzigster Brief.

Theure und Treue!

Du nanntest mich manchmal kindlich, und kein Lob-
spruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel sey Dank,
liebe Julie, Kinder werden wir Beide bleiben, so lange
wir athmen, und wenn auch schon hundert Runzeln
uns bedeckten. Kinder aber spielen gern, sind zuwei-
len ein wenig inconsequent und haschen dabei immer
nach Freude. C'est la l'essentiel. So mußt Du
mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar-
ten. Wirf mir also auch nicht vor, daß ich ohne
Zweck umherirre -- du lieber Himmel! hat doch
Parry mit seinem Zweck dreimal vergebens nach dem
Nordpol segeln müssen, ohne seinen Zweck zu
erreichen
, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang
Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena
zu verkümmern, weil er seinen Zweck früher zu gut
erreicht hatte! Und was ist überhaupt der Zweck der
Menschen? Keiner kann's eigentlich recht genau ab-


Vier und vierzigſter Brief.

Theure und Treue!

Du nannteſt mich manchmal kindlich, und kein Lob-
ſpruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel ſey Dank,
liebe Julie, Kinder werden wir Beide bleiben, ſo lange
wir athmen, und wenn auch ſchon hundert Runzeln
uns bedeckten. Kinder aber ſpielen gern, ſind zuwei-
len ein wenig inconſequent und haſchen dabei immer
nach Freude. C’est là l’essentiel. So mußt Du
mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar-
ten. Wirf mir alſo auch nicht vor, daß ich ohne
Zweck umherirre — du lieber Himmel! hat doch
Parry mit ſeinem Zweck dreimal vergebens nach dem
Nordpol ſegeln müſſen, ohne ſeinen Zweck zu
erreichen
, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang
Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena
zu verkümmern, weil er ſeinen Zweck früher zu gut
erreicht hatte! Und was iſt überhaupt der Zweck der
Menſchen? Keiner kann’s eigentlich recht genau ab-

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[[235]/0257] Vier und vierzigſter Brief. Holyhead, den 15ten December 1828. Theure und Treue! Du nannteſt mich manchmal kindlich, und kein Lob- ſpruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel ſey Dank, liebe Julie, Kinder werden wir Beide bleiben, ſo lange wir athmen, und wenn auch ſchon hundert Runzeln uns bedeckten. Kinder aber ſpielen gern, ſind zuwei- len ein wenig inconſequent und haſchen dabei immer nach Freude. C’est là l’essentiel. So mußt Du mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar- ten. Wirf mir alſo auch nicht vor, daß ich ohne Zweck umherirre — du lieber Himmel! hat doch Parry mit ſeinem Zweck dreimal vergebens nach dem Nordpol ſegeln müſſen, ohne ſeinen Zweck zu erreichen, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena zu verkümmern, weil er ſeinen Zweck früher zu gut erreicht hatte! Und was iſt überhaupt der Zweck der Menſchen? Keiner kann’s eigentlich recht genau ab-

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 2. München, 1830, S. [235]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe02_1830/257>, abgerufen am 16.04.2024.