Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

hat an meiner Mutter Wochenbett gesessen und gut
nachbarschaftlich in meine Wiege gesehen; ich habe
an ihrem Sterbelager gesessen und sie in ihrem
Sarge gesehen -- ebenso gut nachbarschaftlich (ich
gebrauche das Wort trotz Allem, was nachher hierüber
zu den Akten kommt). Zwischen meiner Wiege und
ihrem Sarge aber haben so viele gute, liebe, lange
Jahre des Zusamenlebens und Verkehrs von Haus
zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zu einander
gehörten; obgleich mein Vater -- ihr Familienfreund
war, sie nur selten "begriff", sie recht häufig sehr
ängstete und dann und wann noch viel mehr ärgerte;
und obgleich meine Mutter in allem diesen der
Ansicht und Meinung meines Vaters war und
"Amalien" fast noch weniger "begriff" als er.

Natürlich wurzelten neun Zehntel aller Mi߬
verständnisse in dem Vorhandensein meines Freundes
Velten in dieser auf bürgerlichem Ordnungssinn ge¬
gründeten Erdenwelt. Weshalb hatte denn aber auch
die Obervormundschaftsbehörde nach dem Tode des
Doktors der Vormünderin des Jungen den Ober¬
regierungssekretär Krumhardt als Familienberather
beigegeben? Da mußte sich denn freilich manches zu¬
spitzen, was von Natur keine Schärfe hatte, wenigstens
auf der einen Seite. -- Mit den Gärten sind heut¬
zutage zwar auch die Vögel im Vogelsang ausgerottet;

hat an meiner Mutter Wochenbett geſeſſen und gut
nachbarſchaftlich in meine Wiege geſehen; ich habe
an ihrem Sterbelager geſeſſen und ſie in ihrem
Sarge geſehen — ebenſo gut nachbarſchaftlich (ich
gebrauche das Wort trotz Allem, was nachher hierüber
zu den Akten kommt). Zwiſchen meiner Wiege und
ihrem Sarge aber haben ſo viele gute, liebe, lange
Jahre des Zuſamenlebens und Verkehrs von Haus
zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zu einander
gehörten; obgleich mein Vater — ihr Familienfreund
war, ſie nur ſelten „begriff“, ſie recht häufig ſehr
ängſtete und dann und wann noch viel mehr ärgerte;
und obgleich meine Mutter in allem dieſen der
Anſicht und Meinung meines Vaters war und
„Amalien“ faſt noch weniger „begriff“ als er.

Natürlich wurzelten neun Zehntel aller Mi߬
verſtändniſſe in dem Vorhandenſein meines Freundes
Velten in dieſer auf bürgerlichem Ordnungsſinn ge¬
gründeten Erdenwelt. Weshalb hatte denn aber auch
die Obervormundſchaftsbehörde nach dem Tode des
Doktors der Vormünderin des Jungen den Ober¬
regierungsſekretär Krumhardt als Familienberather
beigegeben? Da mußte ſich denn freilich manches zu¬
ſpitzen, was von Natur keine Schärfe hatte, wenigſtens
auf der einen Seite. — Mit den Gärten ſind heut¬
zutage zwar auch die Vögel im Vogelſang ausgerottet;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0025" n="15"/>
hat an meiner Mutter Wochenbett ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en und gut<lb/>
nachbar&#x017F;chaftlich in meine Wiege ge&#x017F;ehen; ich habe<lb/>
an ihrem Sterbelager ge&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;ie in ihrem<lb/>
Sarge ge&#x017F;ehen &#x2014; eben&#x017F;o gut nachbar&#x017F;chaftlich (ich<lb/>
gebrauche das Wort trotz Allem, was nachher hierüber<lb/>
zu den Akten kommt). Zwi&#x017F;chen meiner Wiege und<lb/>
ihrem Sarge aber haben &#x017F;o viele gute, liebe, lange<lb/>
Jahre des Zu&#x017F;amenlebens und Verkehrs von Haus<lb/>
zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zu einander<lb/>
gehörten; obgleich mein Vater &#x2014; ihr Familienfreund<lb/>
war, &#x017F;ie nur &#x017F;elten &#x201E;begriff&#x201C;, &#x017F;ie recht häufig &#x017F;ehr<lb/>
äng&#x017F;tete und dann und wann noch viel mehr ärgerte;<lb/>
und obgleich meine Mutter in allem die&#x017F;en der<lb/>
An&#x017F;icht und Meinung meines Vaters war und<lb/>
&#x201E;Amalien&#x201C; fa&#x017F;t noch weniger &#x201E;begriff&#x201C; als er.</p><lb/>
      <p>Natürlich wurzelten neun Zehntel aller Mi߬<lb/>
ver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;e in dem Vorhanden&#x017F;ein meines Freundes<lb/>
Velten in die&#x017F;er auf bürgerlichem Ordnungs&#x017F;inn ge¬<lb/>
gründeten Erdenwelt. Weshalb hatte denn aber auch<lb/>
die Obervormund&#x017F;chaftsbehörde nach dem Tode des<lb/>
Doktors der Vormünderin des Jungen den Ober¬<lb/>
regierungs&#x017F;ekretär Krumhardt als Familienberather<lb/>
beigegeben? Da mußte &#x017F;ich denn freilich manches zu¬<lb/>
&#x017F;pitzen, was von Natur keine Schärfe hatte, wenig&#x017F;tens<lb/>
auf der einen Seite. &#x2014; Mit den Gärten &#x017F;ind heut¬<lb/>
zutage zwar auch die Vögel im Vogel&#x017F;ang ausgerottet;<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0025] hat an meiner Mutter Wochenbett geſeſſen und gut nachbarſchaftlich in meine Wiege geſehen; ich habe an ihrem Sterbelager geſeſſen und ſie in ihrem Sarge geſehen — ebenſo gut nachbarſchaftlich (ich gebrauche das Wort trotz Allem, was nachher hierüber zu den Akten kommt). Zwiſchen meiner Wiege und ihrem Sarge aber haben ſo viele gute, liebe, lange Jahre des Zuſamenlebens und Verkehrs von Haus zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zu einander gehörten; obgleich mein Vater — ihr Familienfreund war, ſie nur ſelten „begriff“, ſie recht häufig ſehr ängſtete und dann und wann noch viel mehr ärgerte; und obgleich meine Mutter in allem dieſen der Anſicht und Meinung meines Vaters war und „Amalien“ faſt noch weniger „begriff“ als er. Natürlich wurzelten neun Zehntel aller Mi߬ verſtändniſſe in dem Vorhandenſein meines Freundes Velten in dieſer auf bürgerlichem Ordnungsſinn ge¬ gründeten Erdenwelt. Weshalb hatte denn aber auch die Obervormundſchaftsbehörde nach dem Tode des Doktors der Vormünderin des Jungen den Ober¬ regierungsſekretär Krumhardt als Familienberather beigegeben? Da mußte ſich denn freilich manches zu¬ ſpitzen, was von Natur keine Schärfe hatte, wenigſtens auf der einen Seite. — Mit den Gärten ſind heut¬ zutage zwar auch die Vögel im Vogelſang ausgerottet;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/25
Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Akten des Vogelsangs. Berlin, 1896, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_akten_1896/25>, abgerufen am 28.03.2024.