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Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857.

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neben meinem Freunde; er sprach viel von seinem Tode
und lächelte oft trübe vor sich hin. Während seiner Er-
zählung hatte er mit der Reiskohle die Umrisse eines
Kopfes auf der Leinwand vor ihm gezogen. "Das
Bild male ich dir erst noch, Johannes," sagte er. Ich
kannte die milden Züge zu wohl, um sie nicht selbst in
diesen leichten Linien zu erkennen. --

Und so geschah es! Je heller und sonniger die Far-
ben auf der Leinwand aufblühten, je lieblicher der Locken-
kopf Mariens aus dem Grau auftauchte, desto bleicher
wurden die Wangen meines Freundes, und eines Mor-
gens -- war er ihr hinabgefolgt und hatte sein kleines
Kind und seinen Freund allein zurückgelassen! --



Weihnachten! -- Welch ein prächtiges Wort! --
Immer höher thürmt sich der Schnee in den Straßen;
immer länger werden die Eiszapfen an den Dachtraufen;
immer schwerer thauen am Morgen die gefrorenen Fen-
sterscheiben auf! Ach in vielen armen Wohnungen thun
sie es gar nicht mehr. -- Hinter den meisten Fenstern
lugen erwartungsvolle Kindergesichter hervor; da und

neben meinem Freunde; er ſprach viel von ſeinem Tode
und lächelte oft trübe vor ſich hin. Während ſeiner Er-
zählung hatte er mit der Reiskohle die Umriſſe eines
Kopfes auf der Leinwand vor ihm gezogen. „Das
Bild male ich dir erſt noch, Johannes,“ ſagte er. Ich
kannte die milden Züge zu wohl, um ſie nicht ſelbſt in
dieſen leichten Linien zu erkennen. —

Und ſo geſchah es! Je heller und ſonniger die Far-
ben auf der Leinwand aufblühten, je lieblicher der Locken-
kopf Mariens aus dem Grau auftauchte, deſto bleicher
wurden die Wangen meines Freundes, und eines Mor-
gens — war er ihr hinabgefolgt und hatte ſein kleines
Kind und ſeinen Freund allein zurückgelaſſen! —



Weihnachten! — Welch ein prächtiges Wort! —
Immer höher thürmt ſich der Schnee in den Straßen;
immer länger werden die Eiszapfen an den Dachtraufen;
immer ſchwerer thauen am Morgen die gefrorenen Fen-
ſterſcheiben auf! Ach in vielen armen Wohnungen thun
ſie es gar nicht mehr. — Hinter den meiſten Fenſtern
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[62/0072] neben meinem Freunde; er ſprach viel von ſeinem Tode und lächelte oft trübe vor ſich hin. Während ſeiner Er- zählung hatte er mit der Reiskohle die Umriſſe eines Kopfes auf der Leinwand vor ihm gezogen. „Das Bild male ich dir erſt noch, Johannes,“ ſagte er. Ich kannte die milden Züge zu wohl, um ſie nicht ſelbſt in dieſen leichten Linien zu erkennen. — Und ſo geſchah es! Je heller und ſonniger die Far- ben auf der Leinwand aufblühten, je lieblicher der Locken- kopf Mariens aus dem Grau auftauchte, deſto bleicher wurden die Wangen meines Freundes, und eines Mor- gens — war er ihr hinabgefolgt und hatte ſein kleines Kind und ſeinen Freund allein zurückgelaſſen! — Am 24. December. — Weihnachten! — Welch ein prächtiges Wort! — Immer höher thürmt ſich der Schnee in den Straßen; immer länger werden die Eiszapfen an den Dachtraufen; immer ſchwerer thauen am Morgen die gefrorenen Fen- ſterſcheiben auf! Ach in vielen armen Wohnungen thun ſie es gar nicht mehr. — Hinter den meiſten Fenſtern lugen erwartungsvolle Kindergeſichter hervor; da und

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Zitationshilfe: Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. Berlin, 1857, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/raabe_sperlingsgasse_1857/72>, abgerufen am 25.04.2024.