Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 6. Leipzig, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite
64.
Das ist das Wetter nicht, das, als sie mich gebar,
Die Mutter mir versprach, bald ists nun funfzig Jahr,
Als einen Monatlang sie die Geburt verschoben,
Daß sie erst den April ließ seine Laun' austoben:
Im warmen Schoße ward ich zärtlich aufgehoben,
Bis völlig auf der Flur der Wintersturm verschnoben:
Als am sechzehnten Mai war aller Frost vorbei,
Schiens daß ihr erster Sohn ihr zu gebären sei.
Sie lächelte dabei und sprach: Dein Leben sei
Von Kummerfrösten frei stets ein sechzehnter Mai.
O hätte sie's vermocht, die nun im Grabe ruht,
Mir zeigte die Natur stets mütterlichen Muth,
Die so stiefmütterlich sich leider nun erweiset,
Daß mein Geburtstag sich mit Winterfrost umeiset.
Das hat, so ahnungsreich, die Mutter auch geahnt,
Die mit Sprichwörtern mich daran als Kind gemahnt.
64.
Das iſt das Wetter nicht, das, als ſie mich gebar,
Die Mutter mir verſprach, bald iſts nun funfzig Jahr,
Als einen Monatlang ſie die Geburt verſchoben,
Daß ſie erſt den April ließ ſeine Laun' austoben:
Im warmen Schoße ward ich zaͤrtlich aufgehoben,
Bis voͤllig auf der Flur der Winterſturm verſchnoben:
Als am ſechzehnten Mai war aller Froſt vorbei,
Schiens daß ihr erſter Sohn ihr zu gebaͤren ſei.
Sie laͤchelte dabei und ſprach: Dein Leben ſei
Von Kummerfroͤſten frei ſtets ein ſechzehnter Mai.
O haͤtte ſie's vermocht, die nun im Grabe ruht,
Mir zeigte die Natur ſtets muͤtterlichen Muth,
Die ſo ſtiefmuͤtterlich ſich leider nun erweiſet,
Daß mein Geburtstag ſich mit Winterfroſt umeiſet.
Das hat, ſo ahnungsreich, die Mutter auch geahnt,
Die mit Sprichwoͤrtern mich daran als Kind gemahnt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0315" n="305"/>
        <div n="2">
          <head>64.</head><lb/>
          <lg type="poem">
            <l/>
            <lg n="1">
              <l>Das i&#x017F;t das Wetter nicht, das, als &#x017F;ie mich gebar,</l><lb/>
              <l>Die Mutter mir ver&#x017F;prach, bald i&#x017F;ts nun funfzig Jahr,</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Als einen Monatlang &#x017F;ie die Geburt ver&#x017F;choben,</l><lb/>
              <l>Daß &#x017F;ie er&#x017F;t den April ließ &#x017F;eine Laun' austoben:</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="3">
              <l>Im warmen Schoße ward ich za&#x0364;rtlich aufgehoben,</l><lb/>
              <l>Bis vo&#x0364;llig auf der Flur der Winter&#x017F;turm ver&#x017F;chnoben:</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <l>Als am &#x017F;echzehnten Mai war aller Fro&#x017F;t vorbei,</l><lb/>
              <l>Schiens daß ihr er&#x017F;ter Sohn ihr zu geba&#x0364;ren &#x017F;ei.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="5">
              <l>Sie la&#x0364;chelte dabei und &#x017F;prach: Dein Leben &#x017F;ei</l><lb/>
              <l>Von Kummerfro&#x0364;&#x017F;ten frei &#x017F;tets ein &#x017F;echzehnter Mai.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="6">
              <l>O ha&#x0364;tte &#x017F;ie's vermocht, die nun im Grabe ruht,</l><lb/>
              <l>Mir zeigte die Natur &#x017F;tets mu&#x0364;tterlichen Muth,</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="7">
              <l>Die &#x017F;o &#x017F;tiefmu&#x0364;tterlich &#x017F;ich leider nun erwei&#x017F;et,</l><lb/>
              <l>Daß mein Geburtstag &#x017F;ich mit Winterfro&#x017F;t umei&#x017F;et.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="8">
              <l>Das hat, &#x017F;o ahnungsreich, die Mutter auch geahnt,</l><lb/>
              <l>Die mit Sprichwo&#x0364;rtern mich daran als Kind gemahnt.</l>
            </lg><lb/>
            <l>
</l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0315] 64. Das iſt das Wetter nicht, das, als ſie mich gebar, Die Mutter mir verſprach, bald iſts nun funfzig Jahr, Als einen Monatlang ſie die Geburt verſchoben, Daß ſie erſt den April ließ ſeine Laun' austoben: Im warmen Schoße ward ich zaͤrtlich aufgehoben, Bis voͤllig auf der Flur der Winterſturm verſchnoben: Als am ſechzehnten Mai war aller Froſt vorbei, Schiens daß ihr erſter Sohn ihr zu gebaͤren ſei. Sie laͤchelte dabei und ſprach: Dein Leben ſei Von Kummerfroͤſten frei ſtets ein ſechzehnter Mai. O haͤtte ſie's vermocht, die nun im Grabe ruht, Mir zeigte die Natur ſtets muͤtterlichen Muth, Die ſo ſtiefmuͤtterlich ſich leider nun erweiſet, Daß mein Geburtstag ſich mit Winterfroſt umeiſet. Das hat, ſo ahnungsreich, die Mutter auch geahnt, Die mit Sprichwoͤrtern mich daran als Kind gemahnt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane06_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane06_1839/315
Zitationshilfe: Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 6. Leipzig, 1839, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane06_1839/315>, abgerufen am 16.04.2024.