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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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der zu tragenden Last eine größere Fläche darbiete. Allein das Kapitäl
wie der Säulenfuß sind doch in der schönen Architektur aus einem viel
höheren Grund als dem der Nachahmung beibehalten, nämlich um die
Säule nach Art eines organischen Wesens nach oben und unten zu
vollenden. Vorzüglich nun tritt dieß in Ansehung der Triglyphen ein;
denn wie diese bestimmte Form aus den Balkenköpfen entstehen konnte,
ist nicht einmal einzusehen, und man muß dabei doch eine Art von Er-
findung zulassen, indem man sie zunächst von den Brettern ableitet,
welche -- in der späterhin durch die Triglyphen nachgeahmten Form
-- vor diese hervorragenden Köpfe gesetzt worden 1. Die Triglyphen
haben also eine mehr oder weniger unabhängige und selbständige Be-
deutung.

Meine Vorstellung darüber ist diese.

Wenn die Architektur überhaupt die erstarrte Musik ist, ein Ge-
danke, der selbst den Dichtungen der Griechen nicht fremd war, wie
schon aus dem bekannten Mythus von der Leyer des Amphion, der
durch die Töne derselben die Steine bewegt habe sich zusammenzu-
fügen und die Mauern der Stadt Thebe zu bilden -- wenn also über-
haupt die Architektur eine concrete Musik ist, und auch die Alten sie
so betrachteten, so ist es ganz insbesondere die am meisten rhythmische,
die dorische oder altgriechische Architektur (denn dorisch hieß überhaupt
alles Altgriechische), und auch die Alten mußten sie vorzüglich unter
diesem Gesichtspunkt betrachten. Unmöglich konnte ihnen also auch das
Allgemeine ferne liegen, diesen rhythmischen Charakter sinnbildlich durch
eine Form auszudrücken, die sich der einer Leyer vorzüglich nähert, und
eine solche Form sind die sogenannten Triglyphen. Ich will nicht
behaupten, daß sie eine Anspielung auf die Leyer des Amphion seyn
sollen, auf jeden Fall sind sie eine solche auf die alte griechische Leyer,
das Tetrachord, dessen Erfindung einige dem Apollon, andere dem
Mercur zuschreiben. Das älteste Musiksystem der Griechen enthielt
nicht mehr als vier Töne in einer einzigen Oktave, den Grundton

1 Cf. Vitruv Lib. IV, cap. 2.
Schelling, sämmtl. Werke. 1. Abth. V. 38

der zu tragenden Laſt eine größere Fläche darbiete. Allein das Kapitäl
wie der Säulenfuß ſind doch in der ſchönen Architektur aus einem viel
höheren Grund als dem der Nachahmung beibehalten, nämlich um die
Säule nach Art eines organiſchen Weſens nach oben und unten zu
vollenden. Vorzüglich nun tritt dieß in Anſehung der Triglyphen ein;
denn wie dieſe beſtimmte Form aus den Balkenköpfen entſtehen konnte,
iſt nicht einmal einzuſehen, und man muß dabei doch eine Art von Er-
findung zulaſſen, indem man ſie zunächſt von den Brettern ableitet,
welche — in der ſpäterhin durch die Triglyphen nachgeahmten Form
— vor dieſe hervorragenden Köpfe geſetzt worden 1. Die Triglyphen
haben alſo eine mehr oder weniger unabhängige und ſelbſtändige Be-
deutung.

Meine Vorſtellung darüber iſt dieſe.

Wenn die Architektur überhaupt die erſtarrte Muſik iſt, ein Ge-
danke, der ſelbſt den Dichtungen der Griechen nicht fremd war, wie
ſchon aus dem bekannten Mythus von der Leyer des Amphion, der
durch die Töne derſelben die Steine bewegt habe ſich zuſammenzu-
fügen und die Mauern der Stadt Thebe zu bilden — wenn alſo über-
haupt die Architektur eine concrete Muſik iſt, und auch die Alten ſie
ſo betrachteten, ſo iſt es ganz insbeſondere die am meiſten rhythmiſche,
die doriſche oder altgriechiſche Architektur (denn doriſch hieß überhaupt
alles Altgriechiſche), und auch die Alten mußten ſie vorzüglich unter
dieſem Geſichtspunkt betrachten. Unmöglich konnte ihnen alſo auch das
Allgemeine ferne liegen, dieſen rhythmiſchen Charakter ſinnbildlich durch
eine Form auszudrücken, die ſich der einer Leyer vorzüglich nähert, und
eine ſolche Form ſind die ſogenannten Triglyphen. Ich will nicht
behaupten, daß ſie eine Anſpielung auf die Leyer des Amphion ſeyn
ſollen, auf jeden Fall ſind ſie eine ſolche auf die alte griechiſche Leyer,
das Tetrachord, deſſen Erfindung einige dem Apollon, andere dem
Mercur zuſchreiben. Das älteſte Muſikſyſtem der Griechen enthielt
nicht mehr als vier Töne in einer einzigen Oktave, den Grundton

1 Cf. Vitruv Lib. IV, cap. 2.
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 38
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[593/0269] der zu tragenden Laſt eine größere Fläche darbiete. Allein das Kapitäl wie der Säulenfuß ſind doch in der ſchönen Architektur aus einem viel höheren Grund als dem der Nachahmung beibehalten, nämlich um die Säule nach Art eines organiſchen Weſens nach oben und unten zu vollenden. Vorzüglich nun tritt dieß in Anſehung der Triglyphen ein; denn wie dieſe beſtimmte Form aus den Balkenköpfen entſtehen konnte, iſt nicht einmal einzuſehen, und man muß dabei doch eine Art von Er- findung zulaſſen, indem man ſie zunächſt von den Brettern ableitet, welche — in der ſpäterhin durch die Triglyphen nachgeahmten Form — vor dieſe hervorragenden Köpfe geſetzt worden 1. Die Triglyphen haben alſo eine mehr oder weniger unabhängige und ſelbſtändige Be- deutung. Meine Vorſtellung darüber iſt dieſe. Wenn die Architektur überhaupt die erſtarrte Muſik iſt, ein Ge- danke, der ſelbſt den Dichtungen der Griechen nicht fremd war, wie ſchon aus dem bekannten Mythus von der Leyer des Amphion, der durch die Töne derſelben die Steine bewegt habe ſich zuſammenzu- fügen und die Mauern der Stadt Thebe zu bilden — wenn alſo über- haupt die Architektur eine concrete Muſik iſt, und auch die Alten ſie ſo betrachteten, ſo iſt es ganz insbeſondere die am meiſten rhythmiſche, die doriſche oder altgriechiſche Architektur (denn doriſch hieß überhaupt alles Altgriechiſche), und auch die Alten mußten ſie vorzüglich unter dieſem Geſichtspunkt betrachten. Unmöglich konnte ihnen alſo auch das Allgemeine ferne liegen, dieſen rhythmiſchen Charakter ſinnbildlich durch eine Form auszudrücken, die ſich der einer Leyer vorzüglich nähert, und eine ſolche Form ſind die ſogenannten Triglyphen. Ich will nicht behaupten, daß ſie eine Anſpielung auf die Leyer des Amphion ſeyn ſollen, auf jeden Fall ſind ſie eine ſolche auf die alte griechiſche Leyer, das Tetrachord, deſſen Erfindung einige dem Apollon, andere dem Mercur zuſchreiben. Das älteſte Muſikſyſtem der Griechen enthielt nicht mehr als vier Töne in einer einzigen Oktave, den Grundton 1 Cf. Vitruv Lib. IV, cap. 2. Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 38

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/269>, abgerufen am 19.04.2024.