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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

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Zwölfter Brief.

Zur Erfüllung dieser doppelten Aufgabe, das Nothwendige in uns zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche ausser uns dem Gesetz der Nothwendigkeit zu unterwerfen, werden wir durch zwey entgegengesetzte Kräfte gedrungen, die man, weil sie uns antreiben, ihr Objekt zu verwirklichen, ganz schicklich Triebe nennt.* Der

* Ich trage kein Bedenken, diesen Ausdruck sowohl von demjenigen, was nach Befolgung eines Gesetzes als von dem, was nach Befriedigung eines Bedürfnisses strebt, gemeinschaftlich zu gebrauchen, wiewohl man ihn sonst nur auf das letztere einzuschränken pflegt. So wie nehmlich Vernunftideen zu Imperativen oder Pflichten werden, sobald man sie überhaupt in die Schranken der Zeit setzt, so werden aus diesen Pflichten Triebe, sobald sie auf etwas bestimmtes und wirkliches bezogen werden. Die Wahrhaftigkeit z. B. als ein absolutes und nothwendiges, welches die Vernunft allen Intelligenzen vorschreibt, ist in dem höchsten Wesen wirklich, weil sie möglich ist; denn dieß folgt aus dem Begriff eines nothwendigen Wesens. Eben diese Idee, in die Schranken der Menschheit gesetzt, ist zwar noch immer, aber nur moralischer weise, nothwendig, und soll erst wirklich gemacht werden, weil bey einem zufälligen Wesen durch die Möglichkeit allein die Wirklichkeit noch nicht gesetzt ist. Liefert nun die Erfahrung einen Fall, auf den dieser Imperativ der Wahrhaftigkeit sich beziehen lässt, so erweckt er einen Trieb, ein
Zwölfter Brief.

Zur Erfüllung dieser doppelten Aufgabe, das Nothwendige in uns zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche ausser uns dem Gesetz der Nothwendigkeit zu unterwerfen, werden wir durch zwey entgegengesetzte Kräfte gedrungen, die man, weil sie uns antreiben, ihr Objekt zu verwirklichen, ganz schicklich Triebe nennt.* Der

* Ich trage kein Bedenken, diesen Ausdruck sowohl von demjenigen, was nach Befolgung eines Gesetzes als von dem, was nach Befriedigung eines Bedürfnisses strebt, gemeinschaftlich zu gebrauchen, wiewohl man ihn sonst nur auf das letztere einzuschränken pflegt. So wie nehmlich Vernunftideen zu Imperativen oder Pflichten werden, sobald man sie überhaupt in die Schranken der Zeit setzt, so werden aus diesen Pflichten Triebe, sobald sie auf etwas bestimmtes und wirkliches bezogen werden. Die Wahrhaftigkeit z. B. als ein absolutes und nothwendiges, welches die Vernunft allen Intelligenzen vorschreibt, ist in dem höchsten Wesen wirklich, weil sie möglich ist; denn dieß folgt aus dem Begriff eines nothwendigen Wesens. Eben diese Idee, in die Schranken der Menschheit gesetzt, ist zwar noch immer, aber nur moralischer weise, nothwendig, und soll erst wirklich gemacht werden, weil bey einem zufälligen Wesen durch die Möglichkeit allein die Wirklichkeit noch nicht gesetzt ist. Liefert nun die Erfahrung einen Fall, auf den dieser Imperativ der Wahrhaftigkeit sich beziehen lässt, so erweckt er einen Trieb, ein
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[63/0013] Zwölfter Brief. Zur Erfüllung dieser doppelten Aufgabe, das Nothwendige in uns zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche ausser uns dem Gesetz der Nothwendigkeit zu unterwerfen, werden wir durch zwey entgegengesetzte Kräfte gedrungen, die man, weil sie uns antreiben, ihr Objekt zu verwirklichen, ganz schicklich Triebe nennt. * Der * Ich trage kein Bedenken, diesen Ausdruck sowohl von demjenigen, was nach Befolgung eines Gesetzes als von dem, was nach Befriedigung eines Bedürfnisses strebt, gemeinschaftlich zu gebrauchen, wiewohl man ihn sonst nur auf das letztere einzuschränken pflegt. So wie nehmlich Vernunftideen zu Imperativen oder Pflichten werden, sobald man sie überhaupt in die Schranken der Zeit setzt, so werden aus diesen Pflichten Triebe, sobald sie auf etwas bestimmtes und wirkliches bezogen werden. Die Wahrhaftigkeit z. B. als ein absolutes und nothwendiges, welches die Vernunft allen Intelligenzen vorschreibt, ist in dem höchsten Wesen wirklich, weil sie möglich ist; denn dieß folgt aus dem Begriff eines nothwendigen Wesens. Eben diese Idee, in die Schranken der Menschheit gesetzt, ist zwar noch immer, aber nur moralischer weise, nothwendig, und soll erst wirklich gemacht werden, weil bey einem zufälligen Wesen durch die Möglichkeit allein die Wirklichkeit noch nicht gesetzt ist. Liefert nun die Erfahrung einen Fall, auf den dieser Imperativ der Wahrhaftigkeit sich beziehen lässt, so erweckt er einen Trieb, ein

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/13>, abgerufen am 16.04.2024.