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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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1. Jede Rede setzt voraus eine gegebene Sprache. Man
kann dieß zwar auch umkehren, nicht nur für die absolut
erste Rede, sondern auch für den ganzen Verlauf, weil die
Sprache wird durch das Reden; aber die Mittheilung setzt auf
jeden Fall die Gemeinschaftlichkeit der Sprache also eine ge-
wisse Kenntniß derselben voraus. Wenn zwischen die unmit-
telbare Rede und die Mittheilung etwas tritt, also die Kunst der
Rede anfängt: so beruht dieß theils auf der Besorgniß, es
möchte dem hörenden etwas in unserm Sprachgebrauch fremd
sein.

2. Jede Rede beruht auf einem früheren Denken. Man
kann dieses auch umkehren, aber in Bezug auf die Mitthei-
lung bleibt es wahr, denn die Kunst des Verstehens geht nur
bei fortgeschrittenem Denken an.

3. Hiernach ist jeder Mensch auf der einen Seite ein Ort
in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigenthümliche
Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der
Totalität der Sprache. Dann aber ist er auch ein sich stetig
entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Thatsache
von diesem im Zusammenhange mit den übrigen.

Der Einzelne ist in seinem Denken durch die (gemeinsame)
Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche
in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung haben. Ein ande-
rer neuer Gedanke könnte nicht mitgetheilt werden, wenn nicht
auf schon in der Sprache bestehende Beziehungen bezogen. Dieß
beruht darauf, daß das Denken ein inneres Sprechen ist. Dar-
aus erhellt aber auch positiv, daß die Sprache das Fortschreiten
des Einzelnen im Denken bedingt. Denn die Sprache ist nicht
nur ein Complexus einzelner Vorstellungen, sondern auch ein
System von der Verwandtschaft der Vorstellungen. Denn durch
die Form der Wörter sind sie in Verbindung gebracht. Jedes zu-
sammengesetzte Wort ist eine Verwandtschaft, wobei jede Vor-
und Endsylbe eine eigenthümliche Bedeutung (Modification) hat.

1. Jede Rede ſetzt voraus eine gegebene Sprache. Man
kann dieß zwar auch umkehren, nicht nur fuͤr die abſolut
erſte Rede, ſondern auch fuͤr den ganzen Verlauf, weil die
Sprache wird durch das Reden; aber die Mittheilung ſetzt auf
jeden Fall die Gemeinſchaftlichkeit der Sprache alſo eine ge-
wiſſe Kenntniß derſelben voraus. Wenn zwiſchen die unmit-
telbare Rede und die Mittheilung etwas tritt, alſo die Kunſt der
Rede anfaͤngt: ſo beruht dieß theils auf der Beſorgniß, es
moͤchte dem hoͤrenden etwas in unſerm Sprachgebrauch fremd
ſein.

2. Jede Rede beruht auf einem fruͤheren Denken. Man
kann dieſes auch umkehren, aber in Bezug auf die Mitthei-
lung bleibt es wahr, denn die Kunſt des Verſtehens geht nur
bei fortgeſchrittenem Denken an.

3. Hiernach iſt jeder Menſch auf der einen Seite ein Ort
in welchem ſich eine gegebene Sprache auf eine eigenthuͤmliche
Weiſe geſtaltet, und ſeine Rede iſt nur zu verſtehen aus der
Totalitaͤt der Sprache. Dann aber iſt er auch ein ſich ſtetig
entwickelnder Geiſt, und ſeine Rede iſt nur als eine Thatſache
von dieſem im Zuſammenhange mit den uͤbrigen.

Der Einzelne iſt in ſeinem Denken durch die (gemeinſame)
Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche
in ſeiner Sprache ſchon ihre Bezeichnung haben. Ein ande-
rer neuer Gedanke koͤnnte nicht mitgetheilt werden, wenn nicht
auf ſchon in der Sprache beſtehende Beziehungen bezogen. Dieß
beruht darauf, daß das Denken ein inneres Sprechen iſt. Dar-
aus erhellt aber auch poſitiv, daß die Sprache das Fortſchreiten
des Einzelnen im Denken bedingt. Denn die Sprache iſt nicht
nur ein Complexus einzelner Vorſtellungen, ſondern auch ein
Syſtem von der Verwandtſchaft der Vorſtellungen. Denn durch
die Form der Woͤrter ſind ſie in Verbindung gebracht. Jedes zu-
ſammengeſetzte Wort iſt eine Verwandtſchaft, wobei jede Vor-
und Endſylbe eine eigenthuͤmliche Bedeutung (Modification) hat.

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[12/0036] 1. Jede Rede ſetzt voraus eine gegebene Sprache. Man kann dieß zwar auch umkehren, nicht nur fuͤr die abſolut erſte Rede, ſondern auch fuͤr den ganzen Verlauf, weil die Sprache wird durch das Reden; aber die Mittheilung ſetzt auf jeden Fall die Gemeinſchaftlichkeit der Sprache alſo eine ge- wiſſe Kenntniß derſelben voraus. Wenn zwiſchen die unmit- telbare Rede und die Mittheilung etwas tritt, alſo die Kunſt der Rede anfaͤngt: ſo beruht dieß theils auf der Beſorgniß, es moͤchte dem hoͤrenden etwas in unſerm Sprachgebrauch fremd ſein. 2. Jede Rede beruht auf einem fruͤheren Denken. Man kann dieſes auch umkehren, aber in Bezug auf die Mitthei- lung bleibt es wahr, denn die Kunſt des Verſtehens geht nur bei fortgeſchrittenem Denken an. 3. Hiernach iſt jeder Menſch auf der einen Seite ein Ort in welchem ſich eine gegebene Sprache auf eine eigenthuͤmliche Weiſe geſtaltet, und ſeine Rede iſt nur zu verſtehen aus der Totalitaͤt der Sprache. Dann aber iſt er auch ein ſich ſtetig entwickelnder Geiſt, und ſeine Rede iſt nur als eine Thatſache von dieſem im Zuſammenhange mit den uͤbrigen. Der Einzelne iſt in ſeinem Denken durch die (gemeinſame) Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche in ſeiner Sprache ſchon ihre Bezeichnung haben. Ein ande- rer neuer Gedanke koͤnnte nicht mitgetheilt werden, wenn nicht auf ſchon in der Sprache beſtehende Beziehungen bezogen. Dieß beruht darauf, daß das Denken ein inneres Sprechen iſt. Dar- aus erhellt aber auch poſitiv, daß die Sprache das Fortſchreiten des Einzelnen im Denken bedingt. Denn die Sprache iſt nicht nur ein Complexus einzelner Vorſtellungen, ſondern auch ein Syſtem von der Verwandtſchaft der Vorſtellungen. Denn durch die Form der Woͤrter ſind ſie in Verbindung gebracht. Jedes zu- ſammengeſetzte Wort iſt eine Verwandtſchaft, wobei jede Vor- und Endſylbe eine eigenthuͤmliche Bedeutung (Modification) hat.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/36>, abgerufen am 29.03.2024.