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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Indogermanen; Russen, Italiener, Franzosen.
Schachergeist, das vorwiegende Bauerntum, die Fähigkeit, zuerst alle Schwierigkeit leicht
zu überwinden, dann stehen zu bleiben, die Anbequemung an jede Situation.

Der Russe ist weichen, zärtlichen Charakters und liebt die Musik; er bleibt unter den
größten Entbehrungen munter; er ist ein ausgezeichneter Bedienter, Handlanger, Soldat;
er geht als Bauer, als Krämer, als Hausierer, als Arbeiter überall hin, wo der russische
Doppeladler herrscht, aber nicht über ihn hinaus. Der Russe ist überall zähe, ruhig,
geschäftig, geschmeidig und scharfsinnig im Geschäft, das Ideal eines noch halb barba-
rischen Handelsmenschen; listig, zur Simulation geschickt, dem Betrug nicht abgeneigt,
mit leidenschaftlichem Triebe des Gelderwerbes, nach Trinkgeldern lüstern bis zur Selbst-
erniedrigung. Anhänglichkeit, Treue, maschinenmäßige Ausdauer, Gehorsam zeichnen
ihn aus. Er liebt die Gesellschaft, ist von religiösen Stimmungen beherrscht, aber es
mangelt noch die Ehrlichkeit, das Zartgefühl, das Gewissen der höheren Kultur wie
die entschiedene Energie, die höhere Intelligenz. Die Arbeit erscheint der Masse fast
noch als etwas Entehrendes. Der Russe lebt vielfach noch in den Tag, verkauft sein
Ehebette oder seine Silbersachen, wenn er eine Reise vorhat. Er ist nicht so zuverlässig
und pünktlich wie der Deutsche, aber auch nicht eigensinnig wie dieser. Er ist Realist
in der guten und weniger guten Bedeutung des Wortes, wo der Deutsche Idealist ist.

Die heutigen Italiener haben etruskisches, italisches, griechisches, keltisches,
phönikisches, semitisch-arabisches, germanisches Blut in sich: eine einheitliche Nation sind
sie seit den Tagen der römischen Weltherrschaft geworden; sie waren es so früher als
alle anderen europäischen Nationen; diesen Traditionen, der römischen Kirche und ihrer
Handelslage verdanken sie ihre hohe mittelalterliche Kultur, die das Wesen des Volkes
bis heute beherrscht. Die Italiener wurden damals die ersten rein individuellen Menschen
der modernen Zeit.

Unter dem glücklichen Himmel werden die materiellen Bedürfnisse leichter befriedigt
als im Norden; selbst das Proletariat behält damit eine Freiheit, eine gewisse persönliche
Würde, die, gepaart mit Anstand und Schönheitsgefühl, mit einer Sprachfähigkeit ohne-
gleichen, die Nordländer überrascht und beschämt. Frugal, nüchtern, höflich und liebens-
würdig, geschwätzig und musikalisch, aber auch naiv eigennützig und intrigant, klug
reflektierend zeigt der Italiener eine Einfachheit und Geschicklichkeit im Denken und
Handeln, die vor allem auf der Abwesenheit von tieferen Gemütsbewegungen beruht.
Das Individuum ist ein vollendeter Mensch, die Herrschaft der Familie, der Gesellschaft,
des Staates über ihn ist gering; man findet sich mit ihm, wie mit der Kirche, äußerlich
ab, geht klug seinen Plänen nach, erreicht dabei Großes in der Kunst, in der Diplomatie,
auf vielen Gebieten; aber auch in der Intrigue, in der Pietätlosigkeit, der Falschheit,
ja der Ruchlosigkeit. Gewissen und Scham spielen gegenüber der natürlichen Naivität,
der Phantasie und der Leidenschaft die geringere Rolle. Das Volk pfeift und singt,
schwatzt und gestikuliert den ganzen Tag; es arbeitet zum großen Teil auch unermüdlich;
die unteren Klassen arbeiten sich fast zu Tode. Der italienische Arbeiter ist dem deutschen
vielfach überlegen. Dabei ist der Gegensatz der Stände geringer als irgendwo; der
Fürst sitzt in der Kneipe neben dem Spießbürger und neben seinem Pächter; alle Klassen
sind städtisch angehaucht, haben städtische Gewohnheiten, was freilich nicht hindert, daß
die Ärmsten der Armen auf dem Lande fast ein Leben wie die Wilden führen. Heute
lasten über dem schönen Lande noch die Nachwirkungen jahrhundertelanger Mißregierung.
Wenn etwas das Volk wieder heben kann, so ist es der gesunde, mit der Kirche ver-
söhnte nationale Staat, wenn ihm die Ausbildung gerechter Institutionen und die Be-
seitigung der althergebrachten Korruption gelingt. Auch die volkswirtschaftliche Hebung
des Landes hängt daran.

Die Franzosen sind als Romanen den Italienern verwandt. Aber den Kern
des Volkes bilden die gallischen Kelten, welche die iberischen Ureinwohner ebenso
absorbierten wie die späteren germanischen Einwanderer. Die 400jährige römische
Herrschaft hat die dauerndsten Spuren im Volkscharakter hinterlassen; aber auch sie
hat die reizbaren, schnell entschlossenen, gesprächigen, witzigen, eitlen und kampflustigen
Gallier aus Cäsars Zeit nicht sowohl verändert als abgeschliffen. Heute wie damals

Die Indogermanen; Ruſſen, Italiener, Franzoſen.
Schachergeiſt, das vorwiegende Bauerntum, die Fähigkeit, zuerſt alle Schwierigkeit leicht
zu überwinden, dann ſtehen zu bleiben, die Anbequemung an jede Situation.

Der Ruſſe iſt weichen, zärtlichen Charakters und liebt die Muſik; er bleibt unter den
größten Entbehrungen munter; er iſt ein ausgezeichneter Bedienter, Handlanger, Soldat;
er geht als Bauer, als Krämer, als Hauſierer, als Arbeiter überall hin, wo der ruſſiſche
Doppeladler herrſcht, aber nicht über ihn hinaus. Der Ruſſe iſt überall zähe, ruhig,
geſchäftig, geſchmeidig und ſcharfſinnig im Geſchäft, das Ideal eines noch halb barba-
riſchen Handelsmenſchen; liſtig, zur Simulation geſchickt, dem Betrug nicht abgeneigt,
mit leidenſchaftlichem Triebe des Gelderwerbes, nach Trinkgeldern lüſtern bis zur Selbſt-
erniedrigung. Anhänglichkeit, Treue, maſchinenmäßige Ausdauer, Gehorſam zeichnen
ihn aus. Er liebt die Geſellſchaft, iſt von religiöſen Stimmungen beherrſcht, aber es
mangelt noch die Ehrlichkeit, das Zartgefühl, das Gewiſſen der höheren Kultur wie
die entſchiedene Energie, die höhere Intelligenz. Die Arbeit erſcheint der Maſſe faſt
noch als etwas Entehrendes. Der Ruſſe lebt vielfach noch in den Tag, verkauft ſein
Ehebette oder ſeine Silberſachen, wenn er eine Reiſe vorhat. Er iſt nicht ſo zuverläſſig
und pünktlich wie der Deutſche, aber auch nicht eigenſinnig wie dieſer. Er iſt Realiſt
in der guten und weniger guten Bedeutung des Wortes, wo der Deutſche Idealiſt iſt.

Die heutigen Italiener haben etruskiſches, italiſches, griechiſches, keltiſches,
phönikiſches, ſemitiſch-arabiſches, germaniſches Blut in ſich: eine einheitliche Nation ſind
ſie ſeit den Tagen der römiſchen Weltherrſchaft geworden; ſie waren es ſo früher als
alle anderen europäiſchen Nationen; dieſen Traditionen, der römiſchen Kirche und ihrer
Handelslage verdanken ſie ihre hohe mittelalterliche Kultur, die das Weſen des Volkes
bis heute beherrſcht. Die Italiener wurden damals die erſten rein individuellen Menſchen
der modernen Zeit.

Unter dem glücklichen Himmel werden die materiellen Bedürfniſſe leichter befriedigt
als im Norden; ſelbſt das Proletariat behält damit eine Freiheit, eine gewiſſe perſönliche
Würde, die, gepaart mit Anſtand und Schönheitsgefühl, mit einer Sprachfähigkeit ohne-
gleichen, die Nordländer überraſcht und beſchämt. Frugal, nüchtern, höflich und liebens-
würdig, geſchwätzig und muſikaliſch, aber auch naiv eigennützig und intrigant, klug
reflektierend zeigt der Italiener eine Einfachheit und Geſchicklichkeit im Denken und
Handeln, die vor allem auf der Abweſenheit von tieferen Gemütsbewegungen beruht.
Das Individuum iſt ein vollendeter Menſch, die Herrſchaft der Familie, der Geſellſchaft,
des Staates über ihn iſt gering; man findet ſich mit ihm, wie mit der Kirche, äußerlich
ab, geht klug ſeinen Plänen nach, erreicht dabei Großes in der Kunſt, in der Diplomatie,
auf vielen Gebieten; aber auch in der Intrigue, in der Pietätloſigkeit, der Falſchheit,
ja der Ruchloſigkeit. Gewiſſen und Scham ſpielen gegenüber der natürlichen Naivität,
der Phantaſie und der Leidenſchaft die geringere Rolle. Das Volk pfeift und ſingt,
ſchwatzt und geſtikuliert den ganzen Tag; es arbeitet zum großen Teil auch unermüdlich;
die unteren Klaſſen arbeiten ſich faſt zu Tode. Der italieniſche Arbeiter iſt dem deutſchen
vielfach überlegen. Dabei iſt der Gegenſatz der Stände geringer als irgendwo; der
Fürſt ſitzt in der Kneipe neben dem Spießbürger und neben ſeinem Pächter; alle Klaſſen
ſind ſtädtiſch angehaucht, haben ſtädtiſche Gewohnheiten, was freilich nicht hindert, daß
die Ärmſten der Armen auf dem Lande faſt ein Leben wie die Wilden führen. Heute
laſten über dem ſchönen Lande noch die Nachwirkungen jahrhundertelanger Mißregierung.
Wenn etwas das Volk wieder heben kann, ſo iſt es der geſunde, mit der Kirche ver-
ſöhnte nationale Staat, wenn ihm die Ausbildung gerechter Inſtitutionen und die Be-
ſeitigung der althergebrachten Korruption gelingt. Auch die volkswirtſchaftliche Hebung
des Landes hängt daran.

Die Franzoſen ſind als Romanen den Italienern verwandt. Aber den Kern
des Volkes bilden die galliſchen Kelten, welche die iberiſchen Ureinwohner ebenſo
abſorbierten wie die ſpäteren germaniſchen Einwanderer. Die 400jährige römiſche
Herrſchaft hat die dauerndſten Spuren im Volkscharakter hinterlaſſen; aber auch ſie
hat die reizbaren, ſchnell entſchloſſenen, geſprächigen, witzigen, eitlen und kampfluſtigen
Gallier aus Cäſars Zeit nicht ſowohl verändert als abgeſchliffen. Heute wie damals

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/169>, abgerufen am 29.03.2024.