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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Zahl der Geburten und der Todesfälle.
und großer Kindersterblichkeit 25--35 Todesfälle haben. Eine Abnahme der Sterblichkeit
im 19. Jahrhundert ist fast überall zu beobachten: in Schweden war sie 1751--70 27,6,
1816--40 23,4, 1884--93 17,2; in Deutschland 1841--50 28,2, 1890--95 24,5;
dieses Sinken fand aber nicht ohne mancherlei Schwankungen statt; dieselben müssen von
Jahr zu Jahr unter Umständen größer sein als etwa bei der Geburtenzahl; man hat
gesagt, die Sterbeziffer sei um die Hälfte dehnbarer als die Geburtenziffer; Hunger-,
Krisen-, Krankheitsjahre greifen hier jäher ein, als umgekehrt gute Jahre die Geburten
fördern: die Sterblichkeit war z. B. in Preußen 1816 27, 1819 31, 1825 27, 1831
36, 1840 28; in Deutschland sank sie 1852--60 von 29 auf 24, stieg 1866 auf 32,
war dann 27--28, aber 1871 wieder 31, um endlich successiv auf 27, 25, 23 herab-
zugehen. In einzelnen Städten und zeitweise, z. B. in Hamburg im Cholerajahre 1892,
ist noch neuerdings die Sterblichkeit von vorher 22--24 auf 40 gestiegen, um in den
folgenden Jahren wieder auf 20 und 18 zu sinken.

Die allgemeine Deutung der Sterbeziffern ist nicht sehr schwer: Wohlfahrt, gute
Sitten und Staatseinrichtungen, gesunde hygienische Verhältnisse vermindern die Sterb-
lichkeit, verlängern das Leben. Wenn man früher allgemein in den Städten größere
Sterblichkeit fand, so lag die Ursache teils in den ungesunden Verhältnissen, teils im
harten Daseinskampf; jetzt haben manche Städte eine geringere Sterblichkeit als der
Landesdurchschnitt. Daß in vielen Ländern die Sterblichkeit mit der größeren Dichtigkeit
der Bevölkerung wächst, ist nicht Folge dieser an sich, sondern der häufig in solchen
Ländern vorhandenen Zahl vieler armer Leute und anderer ungünstiger Verhältnisse.
Die steigende Wohlhabenheit und die verbesserte Hygiene haben an der verminderten
Sterblichkeit von 1750--1890 sicher den Hauptanteil; aber im Vergleich der verschiedenen
heutigen Staaten werden wir nicht sagen können, daß ihre Sterbeziffern allein diesen
Ursachen entsprechen; Länder mit geringerem Wohlstand und mäßiger Hygiene haben
geringe Sterblichkeit, z. B. Finnland 20, Griechenland 21, Bulgarien 21, Norwegen 16;
Deutschland und Österreich haben höhere Sterblichkeit, 26--28, als Länder, die ihnen
an Wohlstand gleichen, z. B. die Schweiz mit 21, Belgien und die Niederlande mit 20.
England hat jetzt 21, Irland 18, und wie viel reicher ist das erstere; Frankreich hat
22 und steht so England sehr nahe, ist aber doch nicht so wohlhabend und in seiner
Hygiene so entwickelt. Die Ursache dieser Verschiedenheiten liegt in dem Altersaufbau,
der Geburtenzahl und vor allem in der schon mehr erwähnten Kindersterblichkeit. Wo
diese groß ist, beeinflußt sie sehr stark die allgemeine Sterblichkeitsziffer, ohne daß in
dem betreffenden Lande notwendig die Sterblichkeit der Erwachsenen größer, der Wohl-
stand und die Hygiene entsprechend geringer wären.

Im allgemeinen wird man für frühere Zeiten und rohe Kulturen annehmen
können, daß ihre Kindersterblichkeit meist eine noch viel größere war als heute in den
Kulturstaaten, wo sie am schlimmsten ist. Die mittelalterliche Bevölkerungsstatistik hat
uns belehrt, daß in den Städten die meisten Ehepaare 6--12 und mehr Geburten, aber
meist nur 1--3 lebende Kinder hatten. Annähernd ähnlich sind heute noch die Zustände
in Osteuropa. Von 100 Geborenen sterben im ersten Lebensjahre in Rußland 26, in
Deutschland 20--26 (noch vor 40 Jahren in Bayern und Württemberg 30--35), in
Frankreich, der Schweiz und Belgien 16, in England 14, in Norwegen 9; in den ersten
fünf Lebensjahren schwanken die Ziffern zwischen 18 und 39 Prozent der Geborenen.
Die Ursachen der Verschiedenheit liegen offenbar nicht bloß in den wirtschaftlichen Ver-
hältnissen, dem größeren oder geringeren Drucke der Not, sondern ebenso in Gewohnheiten
der künstlichen und natürlichen Ernährung, im Kostkinderwesen, vernünftiger und un-
vernünftiger Kinderbehandlung und Ähnlichem. Aber das bleibt doch, wie wir es
vorhin bei Besprechung der Geburten schon andeuteten, die Hauptsache: große Kinder-
sterblichkeit ist ein Symptom ungünstiger wirtschaftlicher und sonstiger Verhältnisse; sie
stellt immer einen Anlauf von zu rascher Bevölkerungszunahme dar; sie umschließt ver-
gebliche Ausgaben, vergebliche Kümmernisse und Sorgen aller Art. Das Ziel muß sein,
nicht möglichst viele, sondern möglichst lebensfähige Geburten zu erzielen, in der Gesamt-
sterbeziffer möglichst wenig Kinder zu haben, den Bevölkerungszuwachs zu erzielen mit

Die Zahl der Geburten und der Todesfälle.
und großer Kinderſterblichkeit 25—35 Todesfälle haben. Eine Abnahme der Sterblichkeit
im 19. Jahrhundert iſt faſt überall zu beobachten: in Schweden war ſie 1751—70 27,6,
1816—40 23,4, 1884—93 17,2; in Deutſchland 1841—50 28,2, 1890—95 24,5;
dieſes Sinken fand aber nicht ohne mancherlei Schwankungen ſtatt; dieſelben müſſen von
Jahr zu Jahr unter Umſtänden größer ſein als etwa bei der Geburtenzahl; man hat
geſagt, die Sterbeziffer ſei um die Hälfte dehnbarer als die Geburtenziffer; Hunger-,
Kriſen-, Krankheitsjahre greifen hier jäher ein, als umgekehrt gute Jahre die Geburten
fördern: die Sterblichkeit war z. B. in Preußen 1816 27, 1819 31, 1825 27, 1831
36, 1840 28; in Deutſchland ſank ſie 1852—60 von 29 auf 24, ſtieg 1866 auf 32,
war dann 27—28, aber 1871 wieder 31, um endlich ſucceſſiv auf 27, 25, 23 herab-
zugehen. In einzelnen Städten und zeitweiſe, z. B. in Hamburg im Cholerajahre 1892,
iſt noch neuerdings die Sterblichkeit von vorher 22—24 auf 40 geſtiegen, um in den
folgenden Jahren wieder auf 20 und 18 zu ſinken.

Die allgemeine Deutung der Sterbeziffern iſt nicht ſehr ſchwer: Wohlfahrt, gute
Sitten und Staatseinrichtungen, geſunde hygieniſche Verhältniſſe vermindern die Sterb-
lichkeit, verlängern das Leben. Wenn man früher allgemein in den Städten größere
Sterblichkeit fand, ſo lag die Urſache teils in den ungeſunden Verhältniſſen, teils im
harten Daſeinskampf; jetzt haben manche Städte eine geringere Sterblichkeit als der
Landesdurchſchnitt. Daß in vielen Ländern die Sterblichkeit mit der größeren Dichtigkeit
der Bevölkerung wächſt, iſt nicht Folge dieſer an ſich, ſondern der häufig in ſolchen
Ländern vorhandenen Zahl vieler armer Leute und anderer ungünſtiger Verhältniſſe.
Die ſteigende Wohlhabenheit und die verbeſſerte Hygiene haben an der verminderten
Sterblichkeit von 1750—1890 ſicher den Hauptanteil; aber im Vergleich der verſchiedenen
heutigen Staaten werden wir nicht ſagen können, daß ihre Sterbeziffern allein dieſen
Urſachen entſprechen; Länder mit geringerem Wohlſtand und mäßiger Hygiene haben
geringe Sterblichkeit, z. B. Finnland 20, Griechenland 21, Bulgarien 21, Norwegen 16;
Deutſchland und Öſterreich haben höhere Sterblichkeit, 26—28, als Länder, die ihnen
an Wohlſtand gleichen, z. B. die Schweiz mit 21, Belgien und die Niederlande mit 20.
England hat jetzt 21, Irland 18, und wie viel reicher iſt das erſtere; Frankreich hat
22 und ſteht ſo England ſehr nahe, iſt aber doch nicht ſo wohlhabend und in ſeiner
Hygiene ſo entwickelt. Die Urſache dieſer Verſchiedenheiten liegt in dem Altersaufbau,
der Geburtenzahl und vor allem in der ſchon mehr erwähnten Kinderſterblichkeit. Wo
dieſe groß iſt, beeinflußt ſie ſehr ſtark die allgemeine Sterblichkeitsziffer, ohne daß in
dem betreffenden Lande notwendig die Sterblichkeit der Erwachſenen größer, der Wohl-
ſtand und die Hygiene entſprechend geringer wären.

Im allgemeinen wird man für frühere Zeiten und rohe Kulturen annehmen
können, daß ihre Kinderſterblichkeit meiſt eine noch viel größere war als heute in den
Kulturſtaaten, wo ſie am ſchlimmſten iſt. Die mittelalterliche Bevölkerungsſtatiſtik hat
uns belehrt, daß in den Städten die meiſten Ehepaare 6—12 und mehr Geburten, aber
meiſt nur 1—3 lebende Kinder hatten. Annähernd ähnlich ſind heute noch die Zuſtände
in Oſteuropa. Von 100 Geborenen ſterben im erſten Lebensjahre in Rußland 26, in
Deutſchland 20—26 (noch vor 40 Jahren in Bayern und Württemberg 30—35), in
Frankreich, der Schweiz und Belgien 16, in England 14, in Norwegen 9; in den erſten
fünf Lebensjahren ſchwanken die Ziffern zwiſchen 18 und 39 Prozent der Geborenen.
Die Urſachen der Verſchiedenheit liegen offenbar nicht bloß in den wirtſchaftlichen Ver-
hältniſſen, dem größeren oder geringeren Drucke der Not, ſondern ebenſo in Gewohnheiten
der künſtlichen und natürlichen Ernährung, im Koſtkinderweſen, vernünftiger und un-
vernünftiger Kinderbehandlung und Ähnlichem. Aber das bleibt doch, wie wir es
vorhin bei Beſprechung der Geburten ſchon andeuteten, die Hauptſache: große Kinder-
ſterblichkeit iſt ein Symptom ungünſtiger wirtſchaftlicher und ſonſtiger Verhältniſſe; ſie
ſtellt immer einen Anlauf von zu raſcher Bevölkerungszunahme dar; ſie umſchließt ver-
gebliche Ausgaben, vergebliche Kümmerniſſe und Sorgen aller Art. Das Ziel muß ſein,
nicht möglichſt viele, ſondern möglichſt lebensfähige Geburten zu erzielen, in der Geſamt-
ſterbeziffer möglichſt wenig Kinder zu haben, den Bevölkerungszuwachs zu erzielen mit

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[167/0183] Die Zahl der Geburten und der Todesfälle. und großer Kinderſterblichkeit 25—35 Todesfälle haben. Eine Abnahme der Sterblichkeit im 19. Jahrhundert iſt faſt überall zu beobachten: in Schweden war ſie 1751—70 27,6, 1816—40 23,4, 1884—93 17,2; in Deutſchland 1841—50 28,2, 1890—95 24,5; dieſes Sinken fand aber nicht ohne mancherlei Schwankungen ſtatt; dieſelben müſſen von Jahr zu Jahr unter Umſtänden größer ſein als etwa bei der Geburtenzahl; man hat geſagt, die Sterbeziffer ſei um die Hälfte dehnbarer als die Geburtenziffer; Hunger-, Kriſen-, Krankheitsjahre greifen hier jäher ein, als umgekehrt gute Jahre die Geburten fördern: die Sterblichkeit war z. B. in Preußen 1816 27, 1819 31, 1825 27, 1831 36, 1840 28; in Deutſchland ſank ſie 1852—60 von 29 auf 24, ſtieg 1866 auf 32, war dann 27—28, aber 1871 wieder 31, um endlich ſucceſſiv auf 27, 25, 23 herab- zugehen. In einzelnen Städten und zeitweiſe, z. B. in Hamburg im Cholerajahre 1892, iſt noch neuerdings die Sterblichkeit von vorher 22—24 auf 40 geſtiegen, um in den folgenden Jahren wieder auf 20 und 18 zu ſinken. Die allgemeine Deutung der Sterbeziffern iſt nicht ſehr ſchwer: Wohlfahrt, gute Sitten und Staatseinrichtungen, geſunde hygieniſche Verhältniſſe vermindern die Sterb- lichkeit, verlängern das Leben. Wenn man früher allgemein in den Städten größere Sterblichkeit fand, ſo lag die Urſache teils in den ungeſunden Verhältniſſen, teils im harten Daſeinskampf; jetzt haben manche Städte eine geringere Sterblichkeit als der Landesdurchſchnitt. Daß in vielen Ländern die Sterblichkeit mit der größeren Dichtigkeit der Bevölkerung wächſt, iſt nicht Folge dieſer an ſich, ſondern der häufig in ſolchen Ländern vorhandenen Zahl vieler armer Leute und anderer ungünſtiger Verhältniſſe. Die ſteigende Wohlhabenheit und die verbeſſerte Hygiene haben an der verminderten Sterblichkeit von 1750—1890 ſicher den Hauptanteil; aber im Vergleich der verſchiedenen heutigen Staaten werden wir nicht ſagen können, daß ihre Sterbeziffern allein dieſen Urſachen entſprechen; Länder mit geringerem Wohlſtand und mäßiger Hygiene haben geringe Sterblichkeit, z. B. Finnland 20, Griechenland 21, Bulgarien 21, Norwegen 16; Deutſchland und Öſterreich haben höhere Sterblichkeit, 26—28, als Länder, die ihnen an Wohlſtand gleichen, z. B. die Schweiz mit 21, Belgien und die Niederlande mit 20. England hat jetzt 21, Irland 18, und wie viel reicher iſt das erſtere; Frankreich hat 22 und ſteht ſo England ſehr nahe, iſt aber doch nicht ſo wohlhabend und in ſeiner Hygiene ſo entwickelt. Die Urſache dieſer Verſchiedenheiten liegt in dem Altersaufbau, der Geburtenzahl und vor allem in der ſchon mehr erwähnten Kinderſterblichkeit. Wo dieſe groß iſt, beeinflußt ſie ſehr ſtark die allgemeine Sterblichkeitsziffer, ohne daß in dem betreffenden Lande notwendig die Sterblichkeit der Erwachſenen größer, der Wohl- ſtand und die Hygiene entſprechend geringer wären. Im allgemeinen wird man für frühere Zeiten und rohe Kulturen annehmen können, daß ihre Kinderſterblichkeit meiſt eine noch viel größere war als heute in den Kulturſtaaten, wo ſie am ſchlimmſten iſt. Die mittelalterliche Bevölkerungsſtatiſtik hat uns belehrt, daß in den Städten die meiſten Ehepaare 6—12 und mehr Geburten, aber meiſt nur 1—3 lebende Kinder hatten. Annähernd ähnlich ſind heute noch die Zuſtände in Oſteuropa. Von 100 Geborenen ſterben im erſten Lebensjahre in Rußland 26, in Deutſchland 20—26 (noch vor 40 Jahren in Bayern und Württemberg 30—35), in Frankreich, der Schweiz und Belgien 16, in England 14, in Norwegen 9; in den erſten fünf Lebensjahren ſchwanken die Ziffern zwiſchen 18 und 39 Prozent der Geborenen. Die Urſachen der Verſchiedenheit liegen offenbar nicht bloß in den wirtſchaftlichen Ver- hältniſſen, dem größeren oder geringeren Drucke der Not, ſondern ebenſo in Gewohnheiten der künſtlichen und natürlichen Ernährung, im Koſtkinderweſen, vernünftiger und un- vernünftiger Kinderbehandlung und Ähnlichem. Aber das bleibt doch, wie wir es vorhin bei Beſprechung der Geburten ſchon andeuteten, die Hauptſache: große Kinder- ſterblichkeit iſt ein Symptom ungünſtiger wirtſchaftlicher und ſonſtiger Verhältniſſe; ſie ſtellt immer einen Anlauf von zu raſcher Bevölkerungszunahme dar; ſie umſchließt ver- gebliche Ausgaben, vergebliche Kümmerniſſe und Sorgen aller Art. Das Ziel muß ſein, nicht möglichſt viele, ſondern möglichſt lebensfähige Geburten zu erzielen, in der Geſamt- ſterbeziffer möglichſt wenig Kinder zu haben, den Bevölkerungszuwachs zu erzielen mit

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/183>, abgerufen am 29.03.2024.