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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
möglichst wenig vergeblichen Anläufen jungen Lebens. Wenn ein Volk jährlich 10 pro
Mille wächst, so ist dies möglich mit 45 Geburten und 35 Todesfällen, aber auch mit
25 Geburten und 15 Todesfällen; der letztere Fall ist der weit vorzuziehende; es ist
der Fall, wie wir ihn annähernd heute in Skandinavien und England vor uns haben,
während in Osteuropa und auch teilweise noch in Deutschland die gleiche Zunahme
durch den Molochdienst großer Kindersterblichkeit erkauft wird.

Wir kommen darauf zurück, wenden uns jetzt zur Bevölkerungszunahme, die wir
einerseits im Anschluß an die eben mitgeteilten Zahlen in ihrer jährlichen Bewegung,
andererseits in ihren Gesamtresultaten, den absoluten Zahlen der Völker betrachten.

72. Die Zunahme und Abnahme der Bevölkerung, ihre absolute
Größe
. Wir haben gesehen, daß das Verhältnis der Geburten- zur Todeszahl in erster
Linie die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung bestimmt; es kommt überall die Zu- und
Abwanderung als zweiter, zeitweise viel stärkerer, gewöhnlich aber weniger eingreifender
Faktor hinzu. Wie beide Ursachen in früheren Zeiten nebeneinander im einzelnen
gewirkt haben, darüber fehlen uns zahlenmäßige Anhaltspunkte. Aus der Gegenwart
wissen wir, daß die Zunahme in Kolonialstaaten, wie in den Vereinigten Staaten und
Australien, dann aber auch in kleinen, sehr stark wachsenden Gebieten, wie Hamburg
und Bremen, ebenso sehr oder noch mehr durch Wanderungen als durch Geburtenüberschuß
stattfindet. In einigen der westlichen Teile der Vereinigten Staaten stieg neuerdings
die jährliche Zunahme bis 85,3 %0, in Hamburg war sie 1871--80 30,73 (wovon
19,72 auf Mehrzuwanderung fielen); in den ganzen Vereinigten Staaten 1800--60
30,89, 1860--80 23,62 %0. Irland, das einzige bedeutend abnehmende Land Europas
in unserer Zeit, dankt dies auch mehr den Wanderungen; es hatte jährlich, 1871--80
8,2 %0 Geburtenüberschuß und 12,6 %0 Wanderverlust. In einigen anderen Staaten hat
die Auswanderung wenigstens den Zuwachs sehr beschränkt. Württemberg hatte 1824--80,
wie 1885--90 57 % seines Geburtenüberschusses wieder durch Wanderungen verloren,
während in ganz Deutschland die Zuwachsrate 1840--90 um 10--20 %, in Norwegen
zeitweise um 33--40 % durch Auswanderung ermäßigt wurde; in den meisten anderen
rasch wachsenden Staaten Europas handelt es sich nur um geringere Modifikation der
natürlichen Zunahme durch Auswanderung. Wir sprechen im folgenden zunächst von
der Zu- und Abnahme ohne Rücksicht auf diesen doppelten Ursachenkomplex: für gewöhnliche
Verhältnisse ist die Relation der Todes- zur Geburtenziffer das Entscheidende.

Unter solcher Voraussetzung steht die Bevölkerung still oder geht zurück, wo die
Todesziffer die Geburtenziffer erreicht oder übertrifft. Das muß früher oft und lange
der Fall gewesen sein; noch im vorigen Jahrhundert treffen wir Provinzen und
Staaten dieser Art, noch in unserem zeigen lange fast alle Städte diesen Charakter. Das
sinkende Altertum hat offenbar viel größere Sterbe- als Geburtenzahlen gehabt; heute wissen
wir von zahlreichen Naturvölkern, die, freilich in erster Linie von dem Hauche des weißen
Mannes, der "killing race", bedroht, unter einem Inbegriff von ungünstigen Ursachen
eine immer kleinere Kinderzahl haben. Umgekehrt, wo die Geburten die Todesfälle
übertreffen, wie das heute in den Kulturstaaten die Regel ist. In früheren Jahrhunderten
war offenbar schon ein Geburtenüberschuß oder eine Zunahme von 5--10 %0 etwas
Außerordentliches, fast nirgends auf die Dauer Vorkommendes. Wir sehen das unter
anderem aus den statistischen Berechnungen Lamprechts für das Trierische Gebiet und die
Zeit von 800--1237, eine Zeit, die durch die großartigste Kolonisation sich auszeichnete;
die jährliche Zunahme betrug 8--900 20 %0, schwankte dann bis 1287 zwischen 1,4
und 3 %0 in fünfzigjährigen Epochen, nicht wie er berechnet 10--35 %0. Die Unmög-
lichkeit einer längeren und allgemeinen Zunahme dieser Art sehen wir vor allem aus
den Verdoppelungsberechnungen. Eine einzige Million Menschen zur Zeit Christi lebend
würde schon 1842 mit 5 %0 Zunahme auf über 8000 Millionen Seelen gekommen sein
(J. G. Hoffmann). Eine Verdoppelung tritt nämlich ein: bei 2 pro Mille in 347, bei
5 in 139, bei 10 in 70, bei 28 in etwa 25 Jahren. Auch die heutige Menschheit,
auch die begünstigtsten, reichsten Staaten können so nicht fort wachsen; Deutschland wird
in 70 Jahren nicht 106, jedenfalls in 140 nicht 212 Millionen Menschen haben.

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
möglichſt wenig vergeblichen Anläufen jungen Lebens. Wenn ein Volk jährlich 10 pro
Mille wächſt, ſo iſt dies möglich mit 45 Geburten und 35 Todesfällen, aber auch mit
25 Geburten und 15 Todesfällen; der letztere Fall iſt der weit vorzuziehende; es iſt
der Fall, wie wir ihn annähernd heute in Skandinavien und England vor uns haben,
während in Oſteuropa und auch teilweiſe noch in Deutſchland die gleiche Zunahme
durch den Molochdienſt großer Kinderſterblichkeit erkauft wird.

Wir kommen darauf zurück, wenden uns jetzt zur Bevölkerungszunahme, die wir
einerſeits im Anſchluß an die eben mitgeteilten Zahlen in ihrer jährlichen Bewegung,
andererſeits in ihren Geſamtreſultaten, den abſoluten Zahlen der Völker betrachten.

72. Die Zunahme und Abnahme der Bevölkerung, ihre abſolute
Größe
. Wir haben geſehen, daß das Verhältnis der Geburten- zur Todeszahl in erſter
Linie die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung beſtimmt; es kommt überall die Zu- und
Abwanderung als zweiter, zeitweiſe viel ſtärkerer, gewöhnlich aber weniger eingreifender
Faktor hinzu. Wie beide Urſachen in früheren Zeiten nebeneinander im einzelnen
gewirkt haben, darüber fehlen uns zahlenmäßige Anhaltspunkte. Aus der Gegenwart
wiſſen wir, daß die Zunahme in Kolonialſtaaten, wie in den Vereinigten Staaten und
Auſtralien, dann aber auch in kleinen, ſehr ſtark wachſenden Gebieten, wie Hamburg
und Bremen, ebenſo ſehr oder noch mehr durch Wanderungen als durch Geburtenüberſchuß
ſtattfindet. In einigen der weſtlichen Teile der Vereinigten Staaten ſtieg neuerdings
die jährliche Zunahme bis 85,3 ‰, in Hamburg war ſie 1871—80 30,73 (wovon
19,72 auf Mehrzuwanderung fielen); in den ganzen Vereinigten Staaten 1800—60
30,89, 1860—80 23,62 ‰. Irland, das einzige bedeutend abnehmende Land Europas
in unſerer Zeit, dankt dies auch mehr den Wanderungen; es hatte jährlich, 1871—80
8,2 ‰ Geburtenüberſchuß und 12,6 ‰ Wanderverluſt. In einigen anderen Staaten hat
die Auswanderung wenigſtens den Zuwachs ſehr beſchränkt. Württemberg hatte 1824—80,
wie 1885—90 57 % ſeines Geburtenüberſchuſſes wieder durch Wanderungen verloren,
während in ganz Deutſchland die Zuwachsrate 1840—90 um 10—20 %, in Norwegen
zeitweiſe um 33—40 % durch Auswanderung ermäßigt wurde; in den meiſten anderen
raſch wachſenden Staaten Europas handelt es ſich nur um geringere Modifikation der
natürlichen Zunahme durch Auswanderung. Wir ſprechen im folgenden zunächſt von
der Zu- und Abnahme ohne Rückſicht auf dieſen doppelten Urſachenkomplex: für gewöhnliche
Verhältniſſe iſt die Relation der Todes- zur Geburtenziffer das Entſcheidende.

Unter ſolcher Vorausſetzung ſteht die Bevölkerung ſtill oder geht zurück, wo die
Todesziffer die Geburtenziffer erreicht oder übertrifft. Das muß früher oft und lange
der Fall geweſen ſein; noch im vorigen Jahrhundert treffen wir Provinzen und
Staaten dieſer Art, noch in unſerem zeigen lange faſt alle Städte dieſen Charakter. Das
ſinkende Altertum hat offenbar viel größere Sterbe- als Geburtenzahlen gehabt; heute wiſſen
wir von zahlreichen Naturvölkern, die, freilich in erſter Linie von dem Hauche des weißen
Mannes, der „killing race“, bedroht, unter einem Inbegriff von ungünſtigen Urſachen
eine immer kleinere Kinderzahl haben. Umgekehrt, wo die Geburten die Todesfälle
übertreffen, wie das heute in den Kulturſtaaten die Regel iſt. In früheren Jahrhunderten
war offenbar ſchon ein Geburtenüberſchuß oder eine Zunahme von 5—10 ‰ etwas
Außerordentliches, faſt nirgends auf die Dauer Vorkommendes. Wir ſehen das unter
anderem aus den ſtatiſtiſchen Berechnungen Lamprechts für das Trieriſche Gebiet und die
Zeit von 800—1237, eine Zeit, die durch die großartigſte Koloniſation ſich auszeichnete;
die jährliche Zunahme betrug 8—900 20 ‰, ſchwankte dann bis 1287 zwiſchen 1,4
und 3 ‰ in fünfzigjährigen Epochen, nicht wie er berechnet 10—35 ‰. Die Unmög-
lichkeit einer längeren und allgemeinen Zunahme dieſer Art ſehen wir vor allem aus
den Verdoppelungsberechnungen. Eine einzige Million Menſchen zur Zeit Chriſti lebend
würde ſchon 1842 mit 5 ‰ Zunahme auf über 8000 Millionen Seelen gekommen ſein
(J. G. Hoffmann). Eine Verdoppelung tritt nämlich ein: bei 2 pro Mille in 347, bei
5 in 139, bei 10 in 70, bei 28 in etwa 25 Jahren. Auch die heutige Menſchheit,
auch die begünſtigtſten, reichſten Staaten können ſo nicht fort wachſen; Deutſchland wird
in 70 Jahren nicht 106, jedenfalls in 140 nicht 212 Millionen Menſchen haben.

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[168/0184] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. möglichſt wenig vergeblichen Anläufen jungen Lebens. Wenn ein Volk jährlich 10 pro Mille wächſt, ſo iſt dies möglich mit 45 Geburten und 35 Todesfällen, aber auch mit 25 Geburten und 15 Todesfällen; der letztere Fall iſt der weit vorzuziehende; es iſt der Fall, wie wir ihn annähernd heute in Skandinavien und England vor uns haben, während in Oſteuropa und auch teilweiſe noch in Deutſchland die gleiche Zunahme durch den Molochdienſt großer Kinderſterblichkeit erkauft wird. Wir kommen darauf zurück, wenden uns jetzt zur Bevölkerungszunahme, die wir einerſeits im Anſchluß an die eben mitgeteilten Zahlen in ihrer jährlichen Bewegung, andererſeits in ihren Geſamtreſultaten, den abſoluten Zahlen der Völker betrachten. 72. Die Zunahme und Abnahme der Bevölkerung, ihre abſolute Größe. Wir haben geſehen, daß das Verhältnis der Geburten- zur Todeszahl in erſter Linie die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung beſtimmt; es kommt überall die Zu- und Abwanderung als zweiter, zeitweiſe viel ſtärkerer, gewöhnlich aber weniger eingreifender Faktor hinzu. Wie beide Urſachen in früheren Zeiten nebeneinander im einzelnen gewirkt haben, darüber fehlen uns zahlenmäßige Anhaltspunkte. Aus der Gegenwart wiſſen wir, daß die Zunahme in Kolonialſtaaten, wie in den Vereinigten Staaten und Auſtralien, dann aber auch in kleinen, ſehr ſtark wachſenden Gebieten, wie Hamburg und Bremen, ebenſo ſehr oder noch mehr durch Wanderungen als durch Geburtenüberſchuß ſtattfindet. In einigen der weſtlichen Teile der Vereinigten Staaten ſtieg neuerdings die jährliche Zunahme bis 85,3 ‰, in Hamburg war ſie 1871—80 30,73 (wovon 19,72 auf Mehrzuwanderung fielen); in den ganzen Vereinigten Staaten 1800—60 30,89, 1860—80 23,62 ‰. Irland, das einzige bedeutend abnehmende Land Europas in unſerer Zeit, dankt dies auch mehr den Wanderungen; es hatte jährlich, 1871—80 8,2 ‰ Geburtenüberſchuß und 12,6 ‰ Wanderverluſt. In einigen anderen Staaten hat die Auswanderung wenigſtens den Zuwachs ſehr beſchränkt. Württemberg hatte 1824—80, wie 1885—90 57 % ſeines Geburtenüberſchuſſes wieder durch Wanderungen verloren, während in ganz Deutſchland die Zuwachsrate 1840—90 um 10—20 %, in Norwegen zeitweiſe um 33—40 % durch Auswanderung ermäßigt wurde; in den meiſten anderen raſch wachſenden Staaten Europas handelt es ſich nur um geringere Modifikation der natürlichen Zunahme durch Auswanderung. Wir ſprechen im folgenden zunächſt von der Zu- und Abnahme ohne Rückſicht auf dieſen doppelten Urſachenkomplex: für gewöhnliche Verhältniſſe iſt die Relation der Todes- zur Geburtenziffer das Entſcheidende. Unter ſolcher Vorausſetzung ſteht die Bevölkerung ſtill oder geht zurück, wo die Todesziffer die Geburtenziffer erreicht oder übertrifft. Das muß früher oft und lange der Fall geweſen ſein; noch im vorigen Jahrhundert treffen wir Provinzen und Staaten dieſer Art, noch in unſerem zeigen lange faſt alle Städte dieſen Charakter. Das ſinkende Altertum hat offenbar viel größere Sterbe- als Geburtenzahlen gehabt; heute wiſſen wir von zahlreichen Naturvölkern, die, freilich in erſter Linie von dem Hauche des weißen Mannes, der „killing race“, bedroht, unter einem Inbegriff von ungünſtigen Urſachen eine immer kleinere Kinderzahl haben. Umgekehrt, wo die Geburten die Todesfälle übertreffen, wie das heute in den Kulturſtaaten die Regel iſt. In früheren Jahrhunderten war offenbar ſchon ein Geburtenüberſchuß oder eine Zunahme von 5—10 ‰ etwas Außerordentliches, faſt nirgends auf die Dauer Vorkommendes. Wir ſehen das unter anderem aus den ſtatiſtiſchen Berechnungen Lamprechts für das Trieriſche Gebiet und die Zeit von 800—1237, eine Zeit, die durch die großartigſte Koloniſation ſich auszeichnete; die jährliche Zunahme betrug 8—900 20 ‰, ſchwankte dann bis 1287 zwiſchen 1,4 und 3 ‰ in fünfzigjährigen Epochen, nicht wie er berechnet 10—35 ‰. Die Unmög- lichkeit einer längeren und allgemeinen Zunahme dieſer Art ſehen wir vor allem aus den Verdoppelungsberechnungen. Eine einzige Million Menſchen zur Zeit Chriſti lebend würde ſchon 1842 mit 5 ‰ Zunahme auf über 8000 Millionen Seelen gekommen ſein (J. G. Hoffmann). Eine Verdoppelung tritt nämlich ein: bei 2 pro Mille in 347, bei 5 in 139, bei 10 in 70, bei 28 in etwa 25 Jahren. Auch die heutige Menſchheit, auch die begünſtigtſten, reichſten Staaten können ſo nicht fort wachſen; Deutſchland wird in 70 Jahren nicht 106, jedenfalls in 140 nicht 212 Millionen Menſchen haben.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/184>, abgerufen am 25.04.2024.