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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
verdankt seine höhere Kultur nur den Völkern, die es zu größeren Volkszahlen gebracht
haben. Aber so unzweifelhaft diese Wahrheit ist, so klar ist auch, daß alle Zunahme
von schwer zu erfüllenden Bedingungen abhängt, daß die Kämpfe der Stämme und
Völker untereinander und mit der Natur, die Schwierigkeit, größere Volkszahlen zu
ernähren, über Krankheiten und Mißjahre Herr zu werden, immer wieder hemmend
dazwischen getreten sind, daß ebenso viele oder mehr Rassen, Stämme und Völker zurück-
gegangen sind oder vernichtet wurden als vorwärts kamen.

Dem entsprechend sehen wir die Völker und ihre Wünsche und Ansichten über die
Zunahme, ihre diesbezüglichen gesellschaftlichen und geschlechtlichen Einrichtungen, in den
letzten Jahrhunderten ihre Theorie über das Bevölkerungsproblem merkwürdig schwanken.
Wir werden diese Schwankungen am besten verstehen, wenn wir sie nicht in ihrer
chronologischen Folge vorführen, sondern gegliedert nach den drei möglichen Zielen,
welche die Völker verfolgten, seit sie den engen Zusammenhang zwischen der Bevölkerungs-
zahl und der Ernährungsmöglichkeit, wie er im Boden und den gesamten wirtschaftlichen
Verhältnissen liegt, instinktiv oder verstandesmäßig begriffen hatten; auch die sogenannten
Bevölkerungstheorien erhalten so am besten ihr Licht und ihre Stelle.

Die Völker konnten 1. pessimistisch und unter dem Drucke ungünstiger Verhältnisse
sich darauf verlassen, daß Krankheit, Kriege, Unglücksfälle aller Art den Überschuß an
Menschen beseitigen werden, und sie konnten, wenn dies nicht genügte, direkt versuchen,
durch absichtliche Hemmung ihre Zahl zu beschränken. Sie konnten 2. im Gefühle ihrer
Kraft sich ausdehnen, ihre Grenzen hinausschieben, fremde Länder unterwerfen, durch
Wanderung, Eroberung, Kolonisierung, Auswanderung sich Luft schaffen. Sie konnten
3. aber auch den jedenfalls von einem gewissen Punkte an schwierigsten Weg betreten
und die einheimische Bevölkerung verdichten, was in der Regel große technische und
wirtschaftliche, sittliche und rechtliche Fortschritte voraussetzte.

Wir betrachten zunächst die unwillkürlichen und die willkürlichen Hemmungen.

Die ersteren waren offenbar viele Jahrtausende lang so stark, daß die Empfindung
eines zu schnellen Bevölkerungszuwachses in den primitiven Zeiten nur ausnahmsweise
eintreten konnte. Am unzweifelhaftesten gilt dies für die Jäger-, Fischer- und alle
wandernden Völker, deren Nahrung unsicher und ungleich ist, deren Krankheiten nicht
aufhören, die, vom Aberglauben beherrscht, mit kümmerlicher Technik schutzlos den
Elementen und allen Feinden preisgegeben sind. Aber auch die Hirten- und primitiven
Ackerbauvölker sind lange immer wieder von Hunger und Krankheiten furchtbar bedroht,
wenn auch bei ihnen durch Gunst der Jahre und der geographischen Lage zeitweise die
Stabilität umschlägt in starke Zunahme; das geschah besonders, wenn große technische
Fortschritte, wie die Viehzähmung und die Milchnahrung, ein besserer Ackerbau das
Leben erleichterte, wenn mal die Kämpfe mit den Nachbarn ruhten, durch glückliche
Zufälle die gewohnten Krankheiten ausblieben. Aber häufig kehrten auch bei ihnen die
gewaltigen Decimierungen natürlicher Art wieder, so daß dann die Geburten nur die
vorhandenen Lücken mehr oder weniger ausfüllten.

Wir haben die Beweise hiefür erst durch die Reiseberichte der letzten hundert Jahre
in Bezug auf die wilden und kulturarmen Rassen näher kennen gelernt. Und in Bezug
auf die Kulturvölker hat die neuere Geschichte der Medizin uns gezeigt, daß bis übers
Mittelalter hinaus auch ihre Sterblichkeit eine enorme, die Kindersterblichkeit in Genf
z. B. im 16. Jahrhundert mehr als die doppelte von heute war. Ebenso wichtig wie
die gewöhnliche war die zeitweise außerordentliche Sterblichkeit. Von 531 n. Chr. an
haben 50 Jahre lang Erdbeben und furchtbare Krankheiten ganze Städte und Länder
fast entleert; am schwarzen Tod 1345--50 läßt Hecker 25 Mill. Menschen in Europa
sterben; vielleicht waren es nur 8--12 Mill., aber sicher ist, daß man bis Anfang
des 18. Jahrhunderts überall erstaunt war, wenn nicht alle 10--20 Jahre "ein
groß Sterbede" kam und aufräumte. Nach Macculloch starben in London 1593 24,
1625 31, 1636 13, 1665 45 % der Volkszahl. In solchen Fällen tötete nicht bloß
die Krankheit -- Aussatz, Pest, Pocken etc. --, sondern ebenso die Stockung alles Ver-
kehrs und die Hungersnot. Der Schmutz in Wohnungen und Straßen, die Schlechtigkeit

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
verdankt ſeine höhere Kultur nur den Völkern, die es zu größeren Volkszahlen gebracht
haben. Aber ſo unzweifelhaft dieſe Wahrheit iſt, ſo klar iſt auch, daß alle Zunahme
von ſchwer zu erfüllenden Bedingungen abhängt, daß die Kämpfe der Stämme und
Völker untereinander und mit der Natur, die Schwierigkeit, größere Volkszahlen zu
ernähren, über Krankheiten und Mißjahre Herr zu werden, immer wieder hemmend
dazwiſchen getreten ſind, daß ebenſo viele oder mehr Raſſen, Stämme und Völker zurück-
gegangen ſind oder vernichtet wurden als vorwärts kamen.

Dem entſprechend ſehen wir die Völker und ihre Wünſche und Anſichten über die
Zunahme, ihre diesbezüglichen geſellſchaftlichen und geſchlechtlichen Einrichtungen, in den
letzten Jahrhunderten ihre Theorie über das Bevölkerungsproblem merkwürdig ſchwanken.
Wir werden dieſe Schwankungen am beſten verſtehen, wenn wir ſie nicht in ihrer
chronologiſchen Folge vorführen, ſondern gegliedert nach den drei möglichen Zielen,
welche die Völker verfolgten, ſeit ſie den engen Zuſammenhang zwiſchen der Bevölkerungs-
zahl und der Ernährungsmöglichkeit, wie er im Boden und den geſamten wirtſchaftlichen
Verhältniſſen liegt, inſtinktiv oder verſtandesmäßig begriffen hatten; auch die ſogenannten
Bevölkerungstheorien erhalten ſo am beſten ihr Licht und ihre Stelle.

Die Völker konnten 1. peſſimiſtiſch und unter dem Drucke ungünſtiger Verhältniſſe
ſich darauf verlaſſen, daß Krankheit, Kriege, Unglücksfälle aller Art den Überſchuß an
Menſchen beſeitigen werden, und ſie konnten, wenn dies nicht genügte, direkt verſuchen,
durch abſichtliche Hemmung ihre Zahl zu beſchränken. Sie konnten 2. im Gefühle ihrer
Kraft ſich ausdehnen, ihre Grenzen hinausſchieben, fremde Länder unterwerfen, durch
Wanderung, Eroberung, Koloniſierung, Auswanderung ſich Luft ſchaffen. Sie konnten
3. aber auch den jedenfalls von einem gewiſſen Punkte an ſchwierigſten Weg betreten
und die einheimiſche Bevölkerung verdichten, was in der Regel große techniſche und
wirtſchaftliche, ſittliche und rechtliche Fortſchritte vorausſetzte.

Wir betrachten zunächſt die unwillkürlichen und die willkürlichen Hemmungen.

Die erſteren waren offenbar viele Jahrtauſende lang ſo ſtark, daß die Empfindung
eines zu ſchnellen Bevölkerungszuwachſes in den primitiven Zeiten nur ausnahmsweiſe
eintreten konnte. Am unzweifelhafteſten gilt dies für die Jäger-, Fiſcher- und alle
wandernden Völker, deren Nahrung unſicher und ungleich iſt, deren Krankheiten nicht
aufhören, die, vom Aberglauben beherrſcht, mit kümmerlicher Technik ſchutzlos den
Elementen und allen Feinden preisgegeben ſind. Aber auch die Hirten- und primitiven
Ackerbauvölker ſind lange immer wieder von Hunger und Krankheiten furchtbar bedroht,
wenn auch bei ihnen durch Gunſt der Jahre und der geographiſchen Lage zeitweiſe die
Stabilität umſchlägt in ſtarke Zunahme; das geſchah beſonders, wenn große techniſche
Fortſchritte, wie die Viehzähmung und die Milchnahrung, ein beſſerer Ackerbau das
Leben erleichterte, wenn mal die Kämpfe mit den Nachbarn ruhten, durch glückliche
Zufälle die gewohnten Krankheiten ausblieben. Aber häufig kehrten auch bei ihnen die
gewaltigen Decimierungen natürlicher Art wieder, ſo daß dann die Geburten nur die
vorhandenen Lücken mehr oder weniger ausfüllten.

Wir haben die Beweiſe hiefür erſt durch die Reiſeberichte der letzten hundert Jahre
in Bezug auf die wilden und kulturarmen Raſſen näher kennen gelernt. Und in Bezug
auf die Kulturvölker hat die neuere Geſchichte der Medizin uns gezeigt, daß bis übers
Mittelalter hinaus auch ihre Sterblichkeit eine enorme, die Kinderſterblichkeit in Genf
z. B. im 16. Jahrhundert mehr als die doppelte von heute war. Ebenſo wichtig wie
die gewöhnliche war die zeitweiſe außerordentliche Sterblichkeit. Von 531 n. Chr. an
haben 50 Jahre lang Erdbeben und furchtbare Krankheiten ganze Städte und Länder
faſt entleert; am ſchwarzen Tod 1345—50 läßt Hecker 25 Mill. Menſchen in Europa
ſterben; vielleicht waren es nur 8—12 Mill., aber ſicher iſt, daß man bis Anfang
des 18. Jahrhunderts überall erſtaunt war, wenn nicht alle 10—20 Jahre „ein
groß Sterbede“ kam und aufräumte. Nach Macculloch ſtarben in London 1593 24,
1625 31, 1636 13, 1665 45 % der Volkszahl. In ſolchen Fällen tötete nicht bloß
die Krankheit — Ausſatz, Peſt, Pocken ꝛc. —, ſondern ebenſo die Stockung alles Ver-
kehrs und die Hungersnot. Der Schmutz in Wohnungen und Straßen, die Schlechtigkeit

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[172/0188] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. verdankt ſeine höhere Kultur nur den Völkern, die es zu größeren Volkszahlen gebracht haben. Aber ſo unzweifelhaft dieſe Wahrheit iſt, ſo klar iſt auch, daß alle Zunahme von ſchwer zu erfüllenden Bedingungen abhängt, daß die Kämpfe der Stämme und Völker untereinander und mit der Natur, die Schwierigkeit, größere Volkszahlen zu ernähren, über Krankheiten und Mißjahre Herr zu werden, immer wieder hemmend dazwiſchen getreten ſind, daß ebenſo viele oder mehr Raſſen, Stämme und Völker zurück- gegangen ſind oder vernichtet wurden als vorwärts kamen. Dem entſprechend ſehen wir die Völker und ihre Wünſche und Anſichten über die Zunahme, ihre diesbezüglichen geſellſchaftlichen und geſchlechtlichen Einrichtungen, in den letzten Jahrhunderten ihre Theorie über das Bevölkerungsproblem merkwürdig ſchwanken. Wir werden dieſe Schwankungen am beſten verſtehen, wenn wir ſie nicht in ihrer chronologiſchen Folge vorführen, ſondern gegliedert nach den drei möglichen Zielen, welche die Völker verfolgten, ſeit ſie den engen Zuſammenhang zwiſchen der Bevölkerungs- zahl und der Ernährungsmöglichkeit, wie er im Boden und den geſamten wirtſchaftlichen Verhältniſſen liegt, inſtinktiv oder verſtandesmäßig begriffen hatten; auch die ſogenannten Bevölkerungstheorien erhalten ſo am beſten ihr Licht und ihre Stelle. Die Völker konnten 1. peſſimiſtiſch und unter dem Drucke ungünſtiger Verhältniſſe ſich darauf verlaſſen, daß Krankheit, Kriege, Unglücksfälle aller Art den Überſchuß an Menſchen beſeitigen werden, und ſie konnten, wenn dies nicht genügte, direkt verſuchen, durch abſichtliche Hemmung ihre Zahl zu beſchränken. Sie konnten 2. im Gefühle ihrer Kraft ſich ausdehnen, ihre Grenzen hinausſchieben, fremde Länder unterwerfen, durch Wanderung, Eroberung, Koloniſierung, Auswanderung ſich Luft ſchaffen. Sie konnten 3. aber auch den jedenfalls von einem gewiſſen Punkte an ſchwierigſten Weg betreten und die einheimiſche Bevölkerung verdichten, was in der Regel große techniſche und wirtſchaftliche, ſittliche und rechtliche Fortſchritte vorausſetzte. Wir betrachten zunächſt die unwillkürlichen und die willkürlichen Hemmungen. Die erſteren waren offenbar viele Jahrtauſende lang ſo ſtark, daß die Empfindung eines zu ſchnellen Bevölkerungszuwachſes in den primitiven Zeiten nur ausnahmsweiſe eintreten konnte. Am unzweifelhafteſten gilt dies für die Jäger-, Fiſcher- und alle wandernden Völker, deren Nahrung unſicher und ungleich iſt, deren Krankheiten nicht aufhören, die, vom Aberglauben beherrſcht, mit kümmerlicher Technik ſchutzlos den Elementen und allen Feinden preisgegeben ſind. Aber auch die Hirten- und primitiven Ackerbauvölker ſind lange immer wieder von Hunger und Krankheiten furchtbar bedroht, wenn auch bei ihnen durch Gunſt der Jahre und der geographiſchen Lage zeitweiſe die Stabilität umſchlägt in ſtarke Zunahme; das geſchah beſonders, wenn große techniſche Fortſchritte, wie die Viehzähmung und die Milchnahrung, ein beſſerer Ackerbau das Leben erleichterte, wenn mal die Kämpfe mit den Nachbarn ruhten, durch glückliche Zufälle die gewohnten Krankheiten ausblieben. Aber häufig kehrten auch bei ihnen die gewaltigen Decimierungen natürlicher Art wieder, ſo daß dann die Geburten nur die vorhandenen Lücken mehr oder weniger ausfüllten. Wir haben die Beweiſe hiefür erſt durch die Reiſeberichte der letzten hundert Jahre in Bezug auf die wilden und kulturarmen Raſſen näher kennen gelernt. Und in Bezug auf die Kulturvölker hat die neuere Geſchichte der Medizin uns gezeigt, daß bis übers Mittelalter hinaus auch ihre Sterblichkeit eine enorme, die Kinderſterblichkeit in Genf z. B. im 16. Jahrhundert mehr als die doppelte von heute war. Ebenſo wichtig wie die gewöhnliche war die zeitweiſe außerordentliche Sterblichkeit. Von 531 n. Chr. an haben 50 Jahre lang Erdbeben und furchtbare Krankheiten ganze Städte und Länder faſt entleert; am ſchwarzen Tod 1345—50 läßt Hecker 25 Mill. Menſchen in Europa ſterben; vielleicht waren es nur 8—12 Mill., aber ſicher iſt, daß man bis Anfang des 18. Jahrhunderts überall erſtaunt war, wenn nicht alle 10—20 Jahre „ein groß Sterbede“ kam und aufräumte. Nach Macculloch ſtarben in London 1593 24, 1625 31, 1636 13, 1665 45 % der Volkszahl. In ſolchen Fällen tötete nicht bloß die Krankheit — Ausſatz, Peſt, Pocken ꝛc. —, ſondern ebenſo die Stockung alles Ver- kehrs und die Hungersnot. Der Schmutz in Wohnungen und Straßen, die Schlechtigkeit

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/188>, abgerufen am 19.04.2024.